Als einziger bewaffnet zu Terrortreff: Paul-Ludwig U., Spitzel des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg. Foto: StN

Am 30. November wollen zwei Richterinnen und drei Richter des Stuttgarter Oberlandesgerichtes im Prozess gegen die mutmaßliche Rechtsterrorgruppe das Urteil sprechen. Abzusehen ist bereits jetzt, dass das Verfahren vor höheren Gerichten fortgesetzt wird.

Drei Jahre lang tüftelte Khalid Scheich Mohammed daran, wie am 9. September 2001 die Terroristen der al-Qaida die Anschläge in New York und Washington ausführen sollten. Der Ingenieur, der in den USA studiert hatte, gilt heute noch als Planungsgenie. Wie Qari Burhan, der in Afghanistan anderthalb Jahrzehnte lang den Nato-Truppen mit selbst gebauten Sprengfallen und Terrorangriffen das Leben zur Hölle machte.

Anderen das Leben zur Hölle schien auch Paul-Ludwig U. machen zu wollen – und avancierte zum selbst ernannten Terrorplaner der mutmaßlichen Rechtsterrorgruppe S.. Er sei deren Fachmann fürs militärische, raunte er den Kriminalen zu. Nach 21 Jahren in Haft und Maßregelvollzug, zu denen er verurteilt wurde, weil er erst einen Polizisten und dann Pflegekräfte als Geiseln nahm. Wegen eines fragwürdigen Gutachtens 2018 aus dem Gefängnis entlassen wollte der Schwerverbrecher mit pädophilen Neigungen vor allem eins: Sein verpfuschtes Leben auf auf Kosten des Staates neu zu starten, mit neuer Identität und Startkapital im Zeugenschutz bekommen.

Deshalb saß er im April 2019 im Polizeipräsidium Heilbronn und tischte Ermittlern eine alarmierende Geschichte auf: Rechtsradikale hätten sich zu einer Terrorgruppe zusammengefunden, die Anschläge auf Moscheen verüben, so einen Bürgerkrieg auslösen und letztendlich das politische System Deutschlands stürzen wollten. U. könnte helfen, die Terroristen dingfest zu machen. Warum auch immer: Die erste Offerte versandete im Landeskriminalamt (LKA) Baden-Württembergs.

Wortgleiche Anschuldigung, andere Beteiligte

U. zog es ins fränkische Würzburg. Dort erzählte er der Polizei dieselbe Geschichte, nannte Namen. Elitepolizisten observierten angebliche Treffen in Bayern und Hessen. Danach war klar: In Bayern schenkte niemand U. mehr Glauben. Der angebliche Terrorchef erwies sich, so der leitende Ermittler als Zeuge im Prozess, als Messi, der sein Leben nicht auf die Reihe bekäme und bereits mit dem Gang zum Briefkasten überfordert sei. U. zog es so zurück in den Südwesten. Im September 2019 zu einem Treffen mit Ermittlern des LKA und einem Staatsanwalt. Dieselbe Geschichte, andere Beteiligte. Und U. war im Geschäft. Wie elektrisiert lief so eine Maschinerie an, an deren vorläufigem Ende zwei Tote, elf Angeklagte und am Donnerstag, 30. November 2023, nach 179 Prozesstagen das Urteil des 5. Strafsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart stehen werden. Bereits jetzt ist klar, dass sich in den kommenden Jahren der Bundesgerichtshof und der Europäische Gerichtshof mit diesem Urteil beschäftigen werden, weil mindestens zwei Verteidiger Revision einlegen wollen.

U. lieferte seinen beiden betreuenden Ermittlern Protokolle von SMS-Nachrichten, Einträge in sozialen Medien. Er plauderte über angebliche und reale Treffen, führte die Ermittler verschwörerisch zu Treffen. Zumindest bei einem tauchte er überraschend für die Beamten eines Mobilen Einsatzkommandos mit einer Pistole bewaffnet auf – sonst trug niemand eine Waffe. Die MEKler wollten U. kontrollieren, weil sie nicht wussten, ob er eine scharfe Waffe trug. Von U.s Spitzelführer im LKA wurde das verboten. Der Ermittlungsführer machte Karriere: Er ist heute Erster Kriminalhauptkommissar; seine Vertreterin im Auswahlverfahren für den höheren Dienst.

Bier und Sekt in der Corona-Ausgehsperre

Verantwortlich für das Verfahren war der damalige Vizepräsident des LKA, Andreas Renner. Sein Präsident Ralf Michelfelder hatte ihm die sogenannte Fachaufsicht über dieses Verfahren übertragen, wie er im Untersuchungsausschuss des Landtages aussagte. Der beschäftigt sich mit den Verfehlungen des späteren Inspekteurs der Polizei. Dieser hat offenbar zusammen mit mindestens einer Ermittlerin des Gruppe-S.-Verfahrens im April 2020 in seinem Büro trotz Corona-Ausgangssperre und -beschränkungen eine private Party gefeiert. Mit diesem Fall beschäftigt sich der Landtag am 15. Dezember.

Am 8. Februar 2020 soll sich im westfälischen Minden die vom LKA so benannte Gruppe S. als Terrorgruppe gebildet haben. „Bingo, Bingo!“, meldet er dem Ermittlungsführer am Telefon. „Es werden 50 000 Euro für Waffenkauf zu... äh bestellt. In vier Wochen werden mr die kriegen ähm. Und es sind Anschläge auf Moscheen geplant“, überschlägt sich seine Stimme. Drei Kurz-, Langwaffen, drei Maschinenpistolen, Handgranaten würden beschafft. Um fünf, sechs Moscheen zu attackieren.

Woher kam das Geld für Leben und Reisen?

Nur: Die Sache mit den Moscheen hatte U. selbst bei dem Treffen der 13 Männern aufgebracht. Der dem LKA als Namensgeber der Gruppe dienende Werner S. wollte zwar bei „Brot und Wein über Krieg sprechen“. Das schien in der Runde kaum jemand zu interessieren: Man habe darüber reden wollen, wie man sich im Fall von Unruhen und Katastrophen schützen könnte. Nur U. wurde konkreter. Am Ende wollte eine Handvoll Männer für mögliche Unruhen Waffen kaufen. Konkret schienen diese Pläne nicht geworden zu sein.

Fraglich ist: Hat das LKA selbst seinen aus den Worten „Kronzeuge“ und „Beschuldigter“ kurzerhand „Kronbeschuldigter“ mit dem Auftrag in die Gruppe geschickt, seine Mitangeklagten zu Straftaten zu verleiten? Eine Frage, die die Richterinnen und Richter im Verlauf des seit dem 13. April 2021 andauernden Verfahrens nicht klären konnten. Im Gegenteil: Wer die Standortdaten U.s bei Telefonaten mit den Inhalten der abgehörten Gespräche vergleicht, wer sich die Mühe macht, U.s Reisen und Lebenswandel mit Pizzabestellungen, Restaurantbesuchen und Taxifahrten abzugleichen, wird feststellen, dass das mit den 412 Euro Hartz-IV nicht zu finanzieren war, die U. erhielt. Die er gleich beim Eingang abhob, damit sie nicht gepfändet oder für seine Monatskarte draufgingen. Eine Summe zwischen 600 und 800 Euro dürfte U. zusätzlich für sein Agentenleben aufgeboten haben – zwei ihm verbotene Schreckschusspistolen inklusive.

Nur: Woher kam das Geld? Aus Zuwendungen des LKA, wie U. behauptet? Wunderlich: Aus dem Schuldnerregister verschwand eine über 11 066,05 Euro geltend gemachte Forderung des Landes Nordrhein-Westfalen gegen U.. Weder die Gerichtsvollzieherin noch Anwälten konnten klären, ob und wenn dann von wem die Forderung getilgt wurde.

Ermittlungsgruppe Adler: Hinweis auf weitere Ermittlungen?

GBA und LKA vertrauten U.s Aussagen, beantragten damit bis zum 14. Februar 2020 bei Richtern Beschlüsse, um Telefone abzuhören, SMS und Chats mitzulesen, Wohnungen zu durchsuchen. Mit den Aussagen des Mannes, von dem die Stuttgarter OLG-Richter bereits während des Prozesse sagten, sie würden seinen Aussagen nur Glauben schenken, wo sie durch andere Aussagen oder Beweismittel gestärkt würden.

Eine Aussage wie der des Mitangeklagten Steffen B., der – in Untersuchungshaft sitzend und in Freiheit drängend– im Mai 2020 auf Anraten seines Verteidigers bei der Polizei aussagte. „Emotinal am Ende“ sei er, sagte er den LKAlern. U. habe in Minden „ins Wort geworfen, dass man Anschläge machen müsste an irgendwelchen großen Moscheen“. Eigentlich zurückhaltend sei es da in der Gruppe gewesen. Wirklich habe sich nur Werner S. dem Plan angeschlossen.

Die Beweisaufnahme zeigte, wie chaotisch die Ermittlungen abliefen: Hastig zwischen dem 10. und 13. Februar im LKA zusammengesuchte Beamte schwärmten zu den Razzien am 14. in die ganze Republik aus. Die nicht mit dem Fall befassten Kriminalen wurden im günstigen Fall mit einem Fragenkatalog für mögliche Vernehmungen ausgestattet . Als Zeugen lügende Ermittler waren im Gerichtssaal. Einer verplapperte sich im Sommer und sagte aus: Mindestens 140 zusätzliche Ermittlungsverfahren seien zu diesem Fall nach dem Polizeirecht geführt worden, die allerdings bei Gericht nicht zur Akte gegeben wurden. Fraglich ist, ob sich dahinter die „Ermittlungsgruppe Adler“ verbirgt, die in Fragmenten in den Ermittlungsakten in Mail-Adressen zu finden ist.

Zwei Tote

Nach dem Beweisantrag eines Verteidigers tauchten unvermittelt 15 Terabyte weitere Daten auf, die das LKA als „nicht relevant für das Verfahren“ einstufte. Als sie den Verteidigern übergeben wurden, hatten im September die Plädoyers begonnen.

Einer der Beschuldigten nahm sich im Sommer 2020 das Leben. Der, vom dem Ermittler sagen, er hätte gar nichts mit der Gruppe zu tun. Im September verstarb ein 42-jähriger Angeklagter an einem Herzinfarkt.

Von den ursprünglich zwölf am 14. Februar 2020 festgenommenen Beschuldigten befinden sich noch fünf in Untersuchungshaft. U. wurde zwar vom GBA angeklagt, jedoch nie festgenommen. Er befindet sich nach wie vor auf freiem Fuß.