Eine „tödliche Sekunde“ zerstörte das Lebensglück einer ganzen Familie. Foto: /Brigitte Fritz-Kador

In Heilbronn muss sich ein 20-Jähriger nach einem Raserunfall für den Tod eines Familienvaters verantworten.

Aniko S., 42 Jahre alt, kämpft immer wieder mit den Tränen und sagt: „Es ging doch nur um eine Sekunde! Wenn ich mir an diesem Tag Schuhe mit Schnürsenkeln angezogen hätte, wäre alles anders gekommen.“

Die „tödliche Sekunde“, die das Lebensglück einer ganzen Familie zerstörte, ereignete sich am 12. Februar 2023 um 17.10 Uhr in der Heilbronner Wollhausstraße, also mitten in der Stadt. Hier ist Tempo 40 km/h vorgeschrieben.

Die junge Familie plant einen Ausflug, alle sitzen angeschnallt im Auto, der Vater fährt rückwärts (anders geht es nicht) aus der Ausfahrt auf die Straße – „maximal in Schrittgeschwindigkeit“, stellt ein Gutachten, das im Auftrag der Staatsanwaltschaft Heilbronn entstand, fest und spricht ihm damit jede Mitschuld für das ab, was sich danach ereignete.

Totschlag, versuchter Totschlag in drei Fällen“

In einem weißen BMW 640D, über 300 PS unter der Haube, sitzt ein 20-Jähriger. Er kann dem Mercedes 200 der Familie nicht mehr ausweichen, kracht in dessen Fahrerseite hinein, der dann in einer Hauswand zum Stehen kommt. Kurz davor hatte der Unfallfahrer bei überhöhter Geschwindigkeit fast schon eine Fußgängerin überfahren. Als er das Auto der Familie S. rammt, war er laut Gutachten mindestens 97 km/h schnell. Er befindet sich seit dem Unfall in U-Haft. Die am vergangenen Mittwoch veröffentlichte Klage der Staatsanwaltschaft Heilbronn nennt als Gründe „Totschlag, versuchter Totschlag in drei Fällen und verbotenes Kraftfahrzeugrennen“.

Der Vater ist auf der Stelle tot, die Mutter und Tochter sind schwer verletzt und ohne Bewusstsein. Der kleine Sohn im Kindergartenalter bekommt alles mit, das viele Blut, wie man seinen toten Vater, die Mutter und die Schwester aus dem Auto zerren muss.

Aniko S. weiß, dass sie alle ein Leben lang Opfer bleiben werden und diese „tödliche Sekunde“ für sie nie enden wird. Die Traumata für alle sind immens, die Liste der körperlichen Verletzungen sehr lang. Noch ist Aniko S. wegen einer Schädigung des Sehnervs auf einem Auge doppelsichtig, die Kopfwunde eines der Kinder will immer noch nicht heilen. Die Mutter ist noch krankgeschrieben.

Ihr Sohn trägt, wo es auch geht, den Pullover seines Vaters mit sich herum, er wird wütend, wenn jemand sagt, er sei doch tot und komme nie wieder. Sieht er ein weißes Auto, sagt er: „böses Auto“. Ihre Tochter sei, so schildert es die Mutter, bis zum Unfalltag ein fröhliches, lebhaftes und aufgeschlossenes Kind gewesen, nun sei sie still, in sich gekehrt. Es sei schwer, an sie heranzukommen, auch für psychologische Hilfe. Der Schock war so tief, dass sie im Krankenhaus tagelang nichts essen wollte. Peinlich genau achten die Kinder jeden Abend darauf, dass Papas Bettseite für ihn aufgedeckt wird, sie selber, sagt die Frau, müsse sich immer noch jeden Morgen erst wieder in der Realität zurechtfinden.

Um diese zu bewältigen, hat sich Aniko S. Rituale geschaffen: mindestens zweimal die Woche geht sie auf den Friedhof und fast täglich an der Unfallstelle vorbei. Zur neuen Realität gehört auch, wie sie anderen Familienangehörigen begegnet. Von ihnen erfahre sie viel Unterstützung, sagt sie, aber fröhliche Familientreffen gebe es nicht mehr, da werde immer nur über Tod und Trauer geredet. Hilfsangebote und Anteilnahme gab es viele – von den Lehrern und Betreuern der Kinder und von Fremden.

Zur Beerdigung kamen mehr als 400 Menschen, die wenigsten kannte sie. Die Familie war erst drei Jahre zuvor nach Heilbronn gezogen. Hier seien die Zukunftschancen besser, begründete der Vater den Ortswechsel. „Er war ein sehr guter Mensch“, sagt Aniko S. über ihren verstorbenen Mann. 24 Jahre waren sie zusammen, davon neun verheiratet. Sie hätten sich ihr Leben gut eingerichtet, Arbeit und Familienaufgaben geteilt: „Alles war perfekt, und wir hatten noch so viele Pläne.“

Wie es weitergeht, auch in finanzieller Hinsicht, weiß sie noch nicht. Auch da kann sie ein weiteres Mal zum Opfer werden, der Hauptverdiener fehlt ja. Erst auf massiven Druck ihrer Anwälte hin war die Versicherung bereit, einen Vorschuss zu bezahlen, der das Umziehen ermöglichte. Von der vorherigen Wohnung aus hätten alle bei jedem Blick aus dem Fenster oder Verlassen des Hauses die Unfallstelle vor Augen gehabt.

Der Strafprozess beginnt im Spätsommer

Für Aniko S. handelt es sich bei dem Unfall um „Mord“, sie beruft sich dabei auf das Merkmal „Vorsatz“. Es gibt einschlägige Urteile, die diesen „Vorsatz“ bei Rasern bejahen. Die Staatsanwaltschaft Heilbronn bewertet den Begriff anders beziehungsweise als hier nicht relevant. Die Anklage der Staatsanwaltschaft spricht von „Totschlag“ und „versuchtem Totschlag“. Der 20-jährige Unfallverursacher soll sich vor der Großen Jugendkammer des Landgerichts Heilbronn verantworten – nicht vor einem ordentlichen Gericht.

Aniko S. wird im Strafprozess als Nebenklägerin auftreten. Sie hat sich vorgenommen, die Kraft dafür zu haben. „Das bin ich meinem Mann schuldig“, sagt sie. Ihre Anwältin Elisabeth Unger-Schnell wird sie begleiten, hat schon für eine psychologische Prozessbegleitung gesorgt.

Rechtsanwalt Christoph Troßbach, er wird Aniko S. in der darauffolgenden zivilrechtlichen Auseinandersetzung vertreten, schaut auf den Ausgang des Strafprozesses im Hinblick auf die wirtschaftliche Zukunft der Familie auch mit Sorge.

Er wünscht sich eine gesetzliche Änderung dahingehend, dass ein präventiver Führerscheinentzug über ein Register schneller vonstattengehen kann, um solche Unfälle zu vermeiden. Für Aniko S. kommt das zu spät, die „tödliche Sekunde“ ist unumkehrbar. Gemildert hätte es ihren Schmerz, wenn vom Unfallverursacher oder seiner Familie auch nur ein kleines Zeichen der Anteilnahme gekommen wäre. Dessen Strafverteidigerin ließ eine Anfrage unserer Zeitung unbeantwortet. Der Strafprozess soll im Spätsommer stattfinden –unter Ausschluss der Öffentlichkeit.