Held mit Glitzeroutfit: Timo Beyerling als Peter Pan. Foto: Patrick Pfeiffer Quelle: Unbekannt

Von Petra Bail

Esslingen - Jeder Mensch hat seine kleinen Fluchten, in die er sich aus dem Alltag zurückzieht. Dann, wenn’s eng wird - oder die Pflicht zu viel. Man malt sich etwas Schönes aus, tritt gedanklich eine beglückende Reise an. Auch Kinder. Wendy, John und Michael Darling haben sogar das Glück, sich tatsächlich aus dem Staub machen zu können. Ihr Vorteil: Sie lernen Peter Pan, den ewigen Jungen, kennen, als er auf der Suche nach seinem verlorenen Schatten im Schlafzimmer der drei Geschwister landet und mit ihnen ins abenteuerliche Sagenreich Nimmerland fliegt. Was sie dort erwartet, das erzählt James Matthew Barrie in seiner Fantasygeschichte „Peter Pan oder Das Märchen vom Jungen, der nicht erwachsen werden wollte“. Jetzt verzauberte der Kinderbuchklassiker aus dem Jahr 1904 in der deutschen Übersetzung von Erich Kästner im Esslinger Schauspielhaus die kleinen und großen Premierengäste.

Regisseurin Christina Gnann hat die Originalgeschichte auf moderate eineinhalb Stunden konzentriert und die skurrilen Figuren, mit schrillen Kostümen sowie traumhaften Sound- und Lichteffekten für Zuschauer ab fünf Jahren zeitgemäß adaptiert. Peter Pan fliegt in funkelnder Paillettenhose durch die Luft, die Meerjungfrau hat einen Glitzerschuppenschwanz und die kesse Tigerlilly entzückt mit flauschegelbem Federmützchen.

Romantische Gefühle

Bei aller Niedlichkeit, die in dieser gelungenen Bilder-Revue neben dem Witz und den vielen komischen Momenten im Vordergrund stehen, zeigt Gnann auch die dunklen, unergründlichen Seiten der Nimmerland-Romantik. Denn Peter Pan holt die drei Geschwister, die vom Kindermädchen Nana, einem fürsorglichen Hund, bewacht werden, nicht aus Jux und Dollerei aus ihrem behüteten Heim. Er braucht eine Ersatzmutter für seine Gang der „verlorenen Jungs“. Die drolligen Kumpels sind unachtsamen Kindermädchen aus dem Wagen gefallen. Die junge Wendy soll diese Aufgabe übernehmen, die aber viel mehr romantische Gefühle für Peter als mütterliche für die Buben hegt. Trotzdem nimmt sie nach kurzer Rücksprach mit dem Publikum die Mutterrolle an, weil die kleinen Kerle jemand brauchen, der sie einfach nur gern hat.

Vorbild für ein Verhaltensmuster

Und mit Peter ist das so eine Sache. Der amerikanische Therapeut Dan Kiley hat ein Verhaltensmuster nach ihm benannt. Das „Peter-Pan-Syndrom“ steht für erwachsene Männer, die sich kindlich benehmen. Peter ist zwar lustig und charmant, kann aber keine tiefen Gefühle empfinden. Er ist der Prima-Kumpeltyp, der mutig gegen eine wilde Seeräuberbande und deren einarmigen Anführer, den furchterregenden Käpt’n Hook kämpft, aber leider bindungsunfähig. Zudem bewacht ihn noch die eifersüchtige Tinkerbell, die auch vor einem Mordanschlag auf Wendy nicht zurückschreckt, deren zwitschernde Sprache aber nur Peter versteht. Die groteske Fee ist kein rosaroter Kleinmädchentraum, sondern macht das Gespaltene deutlich, das diese Parallelwelt kennzeichnet. Cornelius Nieden sieht im silbergrauen Tutu mit lilafarbenen Turmhaaren zum Schreien komisch aus, verkörpert aber auch die tragische Figur des Zwitterwesens.

Christine Gnann hat auch andere Rollen diametral besetzt. So darf Markus Michalik als undurchsichtige Wassernixe über die Bühne robben. Anika Herzberg wütet unter anderem als Piratenchef und avanciert als grunzendes und schnüffelndes Hunde-Kindermädchen zum Publikumsliebling. Die Travestie macht Spaß, da das ganze Personal (Daniel Elias Böhm, Sabine Christiane Dotzer, Galina Freund, Tobias Strobel und Elif Veyisoglu) in viele Rollen zu schlüpfen hat. Nur Timo Beyerling darf ausschließlich den herrlich machohaften Peter Pan verkörpern, der sich nicht festlegen will. Deshalb öffnet er auch am Ende mit den Worten: „Wir brauchen keine Mütter“ das Fenster, durch das Wendy, John und Michael wieder nach Hause zurück können. Der ewige Junge hat keine Vergangenheit, er kennt keine Zukunft und bleibt deshalb einsam in Nimmerland zurück, dem Sehnsuchtsort der Freiheitsliebenden.

Hintergründiges Traumland

Dem Ende wird ganz kindgerecht durch viel Slapstick, Performance und Tanzeinlagen der schale Geschmack genommen. Wer will schon traurig nach Hause gehen? Das ganze Ensemble tanzt zu „Billie Jean“ von Michael Jackson, der sein Anwesen nach Peter Pans Heimat, Neverland-Ranch, genannt hatte. Es bleibt die Erinnerung an einen schönen Bilderbogen, in dem beglückende Märchenbilder aus dem hintergründigen Traumland aufgefächert werden, die Groß und Klein eineinhalb Stunden lang in Staunen versetzen. Die Zuschauer können sich lustvoll auf ihre kleinen Fluchten begeben, angeleitet von einem spielfreudigen Ensemble, einer feinfühligen Regie, die in eine poetische Traumwelt entführen, die von Judith Philipp und Ingibjörg Jara Sigurdardottir optisch gestaltet wurde. Die mitreißende Musik von Lutz Streun und Demian Kappenstein begleitet dieses wunderbare Unterhaltungstheater.

Weitere Vorstellungen: 27. November, 11., 18., 26. Dezember und 15. Januar. Tel. 0711 / 35 12 30 44.