Andreas Jahrmann im Bahnhof Untertürkheim. Er war langzeitarbeitslos, hat vom Sozialunternehmen Neue Arbeit Hilfe erhalten. Quelle: Unbekannt

Das Sozialunternehmen Neue Arbeit kümmert sich seit 15 Jahren um Langzeitarbeitslose

Untertürkheim Es ist ein Kampf gegen Windmühlen, wenn Andreas Jahrmann in der Untertürkheimer Bahnhofsunterführung zu Pinsel und Farbe greift. Fast so schnell wie der gelernte Maler die lilafarbene Schmiererei, die sich am Aufgang zu Gleis 5 und 6 befindet, überstrichen hat, ist sie wieder da – oft bereits nach wenigen Stunden. „Es gibt S-Bahn-Stationen, zu denen wir dreimal die Woche hinmüssen.“ Der 59-Jährige nimmt es gelassen, schließlich sichern die Graffiti seinen Lebensunterhalt.

Während er die Walze in den Farbeimer eintaucht, wirkt er ausgeglichen. Angesprochen auf alte Zeiten gerät er regelrecht ins Schwärmen. Unter anderem war auf den sieben Weltmeeren unterwegs, ist mit großen Frachtern in etliche Häfen eingelaufen. Die Kameradschaft sei unbeschreiblich gewesen. „Wir mussten bis zu acht Monate am Stück miteinander auskommen.“ Zehn Jahre sei er zur See gefahren. „Bis nach Argentinien und Japan hat es mich verschlagen.“ Auch beim Umbau des Stadions An der Alten Försterei hat er 2008 und 2009 mit Hand angelegt. Damit sein Lieblingsklub Union Berlin, „in der dritten Liga spielen durfte“. Natürlich drückt er den Eisernen auch im Oberhaus die Daumen. Sozialer Absturz gestoppt

Doch im Leben des Malergesellen lief nicht immer alles nach Plan. Unter anderem zerbrach das Familienglück, auch der Mauerfall habe den Ostdeutschen überfordert. „Damals ging mir alles viel zu schnell.“ Hinzu kamen gesundheitliche Probleme. Die Knie und der Rücken wollten irgendwann nicht mehr so, wie er wollte. Obwohl Handwerker gefragt waren und es noch immer sind, war es Andreas Jahrmann, den es nach der Wende nach Stuttgart verschlagen hat, plötzlich nicht mehr. „Ich konnte eben nicht mehr auf Gerüsten rumturnen, wie ein junger Kerl.“ Er verlor seinen Job, fand aber auch keine neue Stelle. Es folgte der soziale Absturz. „Ich schaltete morgens um 8 Uhr den Fernseher an und machte ihn dann oftmals den ganzen Tag nicht mehr aus.“

Der freie Fall wurde vor elf Jahren jedoch gestoppt – durch die Neue Arbeit, die sich als gemeinnützige Gesellschaft um Langzeitarbeitslose kümmert. „Sie haben mich aufgefangen. Ich bin froh, dass es das Sozialunternehmen gibt. Sonst wüsste ich nicht, was ich heute machen würde“, sagt Jahrmann, der stolz ist, dass er die Kurve doch noch gekriegt hat. „Ich stehe jeden Tag um 5 Uhr auf und gehe zur Arbeit.“ Das Geld – bezahlt wird der Mindestlohn – spiele dabei eine untergeordnete Rolle, auch wenn es schön sei, wenn am Monatsende ein paar Euro übrig bleiben würden. „Wichtig ist, dass meine Arbeit akzeptiert wird, sich jemand für mich interessiert.“ Keine Bahnhofspaten gefunden

Einer, der das tut, ist Frank Schröter, Betriebsstellenleiter bei der Neuen Arbeit. Er betreut das Projekt, das in diesem Jahr seinen 15. Geburtstag feiert und ursprünglich so nicht geplant war. Eigentlich sollten nämlich ehrenamtliche Bahnhofspaten für mehr Freundlichkeit und Sicherheit an S-Bahn-Stationen sorgen. Die Suche verlief jedoch erfolglos. Darum entwickelte Suzan Ünver vom Verband Region Stuttgart zusammen mit der Neuen Arbeit die Idee, langzeitarbeitslose Menschen für die Tätigkeiten einzusetzen. Ihre Aufgabe: Grobmüll wie Einwegspritzen einsammeln, Graffiti entfernen, Aufkleber mit einem Ceranfeld-Schaber abkratzen und Fahrkartenautomaten, Entwerter sowie Bahnhofsuhren auf ihre Funktionstüchtigkeit überprüfen. Darüber hinaus sollen sie Gefahrenquellen wie lockere Geländer, Stolperfallen oder beschädigte Treppenstufen melden. „Meine Mitarbeiter stehen aber auch Fahrgästen als Ansprechpartner zur Verfügung, helfen auch mal zum Bahnsteig hoch, wenn beispielsweise ein Aufzug ausgefallen ist“, sagt Schröter.

Los ging es mit dem Projekt an Haltestellen entlang der Strecke der S 6, schließlich wurde das gesamte S-Bahn-Netz mit mehr als 100 Stationen daraus. „Es ist ein Erfolgsmodell“, sagt Schröter. Derzeit seien 42 Menschen im Rahmen verschiedener arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen über die Jobcenter Stuttgart, Ludwigsburg und im Rems-Murr-Kreis für die Neue Arbeit im Einsatz. Eine Zeitvorgabe werde den Zwei-Mann-Teams, die selbstständig arbeiten, dabei nicht auferlegt. „Sie sollen ihre Aufgaben lieber sauber erledigen, als möglichst viele Bahnhöfe an einem Tag abzuklappern.“ Projekt ist nicht gewinnorientiert

Um das Projekt kostendeckend finanzieren zu können, ist es auf Spenden angewiesen. Ziel sei nicht der Profit, sondern der Dienst am Gemeinwohl und eben die sinnvolle Beschäftigung langzeitarbeitsloser und benachteiligter Menschen. „Es ist wichtig, dass sie einen strukturierten Tagesablauf haben. Außerdem merken sie, dass wir wertschätzen, was sie machen“, sagt Schröter, der verstehen kann, dass ein „normaler“ Betrieb, der ausschließlich wirtschaftlich arbeiten muss, kein Interesse an ihnen hat. „Jeder Einzelne hat seine Macken. Wenn sie alle fit wären, könnten sie auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen. Dennoch darf man die Leute auch nicht einfach abschreiben.“

Das beste Beispiel dafür ist er wohl selbst. Denn auch Frank Schröter, der seit August 2005 beim Sozialunternehmen angestellt ist, hat als gelernter Straßenbautechniker eine berufliche Karriere mit vielen Höhen und Tiefen hinter sich. „Irgendwann bin ich auch zu Fall gekommen“, gibt er offen und ehrlich zu. „Und wenn man mal zwei, drei Jahre aus dem Berufsalltag raus ist, wird es schwer den Wiedereinstieg zu finden.“ Besonders hart sei für ihn damals die Abstufung von Arbeitslosengeld 1 auf 2 gewesen. „Das ist ein massiver Einschnitt.“ Mit Hartz IV seien keine großen Sprünge mehr möglich. „Da muss man wirklich eisern sparen, falls mal unvorhergesehene Kosten auf einen zukommen.“ Auch aufgrund seiner Vorgeschichte sei er der ideale Projektleiter, sagt Neue-Arbeit-Sprecher Martin Tertelmann. „Eben auf Augenhöhe.“ Er könne sich in seine Mitarbeiter hineinversetzen, kenne die Ängste und Sorgen. Eine Aussage, die auch Andreas Jahrmann über seinen Vorgesetzten jederzeit so unterschreiben würde. „Er ist ein Chef, wie man ihn sich nur wünschen kann.“

Weitere Informationen zum Sozialunternehmen gibt es im Internet unter www.neuearbeit.de.

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