Der Ire Gary Shore hat die Geschichte der bis heute existierenden Queen Mary wirkungsvoll als Horrorfilm inszeniert. Foto: Splendid / Verleih

Auf den ersten Blick ist Gary Shores Horrorfilm „The Queen Mary“ ein konventionelles Gruselstück über ein verfluchtes Schiff. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich jedoch interessante Untiefen und Anleihen an Literatur- und Filmgeschichte.

Ab und zu verfällt der Mensch absurden Ideen: Um wie ein Vogel zu fliegen, nimmt er entsetzliche Unfälle mit windigen Apparaturen in Kauf, bis Flugzeuge endlich verlässliche Transportmittel sind. Den Wahn, die Ozeane mit Schiffen in der Größe kleiner Städte zu durchqueren, bezahlen ebenfalls unzählige Abenteuerlustige mit dem Leben. Über Flugzeugabstürze und Schiffshavarien sponnen die Leute schnell Legenden wie die vom Bermudadreieck, als wollten sie die Verantwortung für all die Toten auf paranormale Phänomene abwälzen. Der Ire Gary Shore fügt nun seinen Schiffshorror „The Queen Mary“ über einen verfluchten Luxusdampfer dem modernen Mythenarsenal hinzu. Denn im Gegensatz zur Titanic ist die bis heute existierende, als Hotelschiff im kalifornischen Long Beach vertäute Queen Mary als Vehikel schrecklicher Leiderfahrungen weitaus weniger im kollektiven Bewusstsein verankert.

Per Schiff durch die Filmgeschichte

Shore erzählt von zwei Familien, deren Schicksal er mit dem Schiff verknüpft. In der Gegenwart versucht das getrennt lebende Paar Anne (Alice Eve) und Patrick (Joel Fry) an Bord der Queen Mary den Leiter des Hotels, Mr. Bittner (Dorian Lough), für eine Buchidee über den vermeintlichen Geisterkahn zu begeistern, der während des zweiten Weltkriegs Soldaten an Bord nahm. Mit dabei ist der kleinwüchsige Sohn des Paars, Lukas (Lenny Rush), ein von Schauermärchen faszinierter 10-Jähriger, der unbedingt die Geistertour für Touristen auf dem Schiff miterleben will.

Doch Lukas entfernt sich von der Menge und saust mit einem Aufzug tief in den Bauch des Schiffes hinab. Dort begegnet er dem Mädchen Jackie (Florrie May Wilkinson), das 1936 auf der Queen Mary dem berühmten Tänzer Fred Astaire (Wesley Alfvin) vortanzt. In der Nacht von Jackies Auftritt kommt es zu einem entsetzlichen Blutbad, seitdem sind die Geister der Getöteten auf dem Schiff gefangen.

Schon einmal hat Gary Shore seine Freude an historischem Schauermaterial bewiesen – Shores Spielfilmdebüt „Dracula Untold“ hatte 2014 das internationale Publikum in die Kinos gezogen, war mit der vom Drehbuchautor Matt Sazama frei fabulierten, von Bram Stokers Roman vollkommen unabhängigen Vorgeschichte des düsteren Grafen aber nicht auf durchweg positive Resonanz gestoßen. Diesmal verbindet Shore bekannte Grusel-Versatzstücke überzeugender, besonders reizvoll erweist sich die Kombination der Motive des Geisterschiffs mit dem des verfluchten Hauses. Beide entspringen der Fantastik und Abenteuerliteratur, etwa von E.T.A Hoffmann („Das öde Haus“) oder Edgar Allan Poe („Arthur Gordon Pyms Abenteuer“, „Der Untergang des Hauses Usher“).

Die wahrscheinlich von Seeleuten kolportierte Sage vom fliegenden Holländer, der mit seinem verfluchten Schiff bis zum jüngsten Tag segeln muss, inspirierte Richard Wagner zu einer seiner beliebtesten Opern. Und der deutsche Dichter Bertolt Brecht beschrieb den Alltag auf dem Meer in seiner „Ballade von den Seeräubern“ mit vollkommen den Naturgewalten ausgelieferten Männern. Das heutige Publikum ließ sich zum Beispiel ab 2003 von den „Fluch der Karibik“-Filmen das Gruseln lehren, im Zentrum die verfluchte Black Pearl von Käpt´n Jack Sparrow. Gary Shores Szenario spielt jedoch auf soziale Probleme der dreißiger Jahre sowie auf die Auflösung familiärer Strukturen in unserer Gegenwart an. Die Familie der kleinen Jackie ist offenkundig arm und Jackies Vater (Wil Coban) ein grausam gesichtsversehrter Veteran des Ersten Weltkrieges. Lukas’ Eltern leben in der Gegenwart entfremdet voneinander, erst die Sorge um ihren verschollenen Sohn bringt die beiden einander wieder näher.

Der Wahnsinn greift à la Kubrick um sich

Hier greift Shore auf Motive des 70er-Jahre-Klassikers „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ über ein vom Ertrinkungstod ihres Kindes traumatisiertes Paar zurück. Viel deutlicher aber bezieht Shore visuelle und inhaltliche Stanzen aus Stanley Kubricks legendärem Horrorthriller „Shining“, der im Gewand einer „Haunted-House“-Story vom Zerfall einer Familie unterm Unstern des Alkoholismus erzählt. Wie bei Kubrick ergreift auch bei Shore der Wahnsinn zuerst den Vater, der mit einer Axt bewaffnet alles meucheln will, was sich seiner verletzten Autorität in den Weg stellt. Die Queen Mary repräsentiert wie das Hotel in „Shining“ eine starre Gesellschaftsordnung, aus der es kein Entkommen geben darf, und die der Vater mit der Axt in der Hand verteidigt. Wer „The Queen Mary“ mit an oberflächlichen Reizen interessiertem Blick schaut, wird zumindest an den gruseligen, blutrünstigen Bildern hängen bleiben. Wer aber genauer hinsieht, erkennt die spannenderen Untiefen.

The Queen Mary. USA 2023. Regie: Gary Shore. Mit Alice Eve, Lenny Rush, Florrie May Wilkinson. 114 Minuten. Ab 16 Jahren. Start: 28.12.

Vom Schiff zur Gruselherberge

Soldatenschiff
Als Passagierschiff der Reederei Cunard White Star Ltd. stach die Queen Mary nach mehrfach verzögertem Bau 1936 in See. Nach Ausbruch des Krieges transportierte sie von 1940 bis Kriegsende insgesamt 800 000 Soldaten.

Unglück
1942 starben bei einem schweren Unfall mit ihrem Geleitboot, dem Flak-Kreuzer Curacoa, 337 Menschen. Unabhängig von dem Unglück existieren Legenden um den Geist eines Kindes, das im Pool des Schiffes ertrunken sein soll, und bis heute nach seiner Mutter weint. Auch wurden Geister-Sichtungen einer weiß gekleideten Frau und eines Matrosen beschrieben. Die Legenden greift Shore im Film auf.

Hotel
Heute beherbergt die Queen Mary ein Restaurant, ein Museum und Hotelzimmer. Eine Standard-Kajüte mit Doppelbett gibt es ab 184 US-Dollar pro Nacht: https://queenmary.com/