Eine symbolische Figur: Die Reporterin Rahimi (Sahra Amir Ebrahimi) jagt im Iran einen Frauenmörder, den das theokratische Regime scheinbar gewähren lässt. Foto: Alamode

Ab diesem Donnerstag gibt es seltene filmische Einblicke in den iranischen Alltag. Ali Abbasis Thriller „Holy Spider“ über einen sittentreuen Frauenmörder im Gottesstaat kommt genau zur richtigen Zeit.

Heilig nennen die Iraner die Metropole Maschhad. Dabei wirkt sie abseits des prächtigen Imam-Reza-Schreins oft schäbig und heruntergekommen – das zeigt Ali Abbasi in seinem Thriller „Holy Spider“. In den Straßen tummeln sich im Jahr 2001, in dem der Plot spielt, nicht nur Touristen und Pilger, sondern auch Prostituierte auf der Suche nach dem nächsten Freier, dem nächsten Dealer.

Maschhad unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von anderen Großstädten, trotz der offiziell strengen Sitten und Gebote. Man toleriert, was nur schwer zu ändern ist. Ein Mann stört sich aber bis aufs Blut am Treiben der Frauen. Nacht für Nacht knattert er auf seinem Motorrad durch die Gassen und gabelt Prostituierte auf, um die Stadt von ihnen zu säubern.

Der Fall ist keine Fiktion

Sechzehn Frauen kommen durch den sogenannten Spinnenmörder zu Tode, der grausame Fall ist belegt und keine Fiktion. Im Westen sind solche Geschichten gerade unter dem Label „True Crime“ beliebt, die Streamingdienste bieten ein breites Angebot filmischer Aufarbeitungen entsetzlichster Mordserien fast prominenter Täter wie Jeffrey Dahmer, Ted Bundy oder Ed Gein.

In gewissem Sinn zählt auch Ali Abbasis auf Tatsachen fußender Thriller „Holy Spider“ über den Prostituierten-Mörder von Maschhad zu dieser Kategorie. Während typische Genrevertreter meist individuelle Tätergeschichten nachzeichnen, legt der 1981 in Teheran geborene, seit 2002 in Skandinavien lebende Abbasi jedoch einen gesamtgesellschaftlichen, deutlich politischeren Fokus auf seine Erzählung. Unterm Eindruck der aktuellen Ereignisse mit anhaltenden Bürgerprotesten gegen das Regime Ajatollah Chameneis und Hinrichtungen von Demonstranten erhält „Holy Spider“ besonderes Gewicht – zumal filmische Darstellungen des Alltagslebens im Iran selten sind.

Der Killer geht in Ruhe seiner Mission nach

Abbasi erzählt, dass eine Teheraner Zeitung eine Journalistin nach Maschhad schickt, um über die Frauenmorde aus nächster Nähe zu berichten. Bei ihren Recherchen stößt die Reporterin Rahimi (Sahra Amir Ebrahimi) jedoch auf Ablehnung, die Polizei hegt nur ein geringes Interesse an der Aufklärung der Morde.

Während sich Rahimi auch noch gegen Zudringlichkeiten eines Ermittlers wehren muss, geht der Killer in Ruhe seiner Mission nach. Tagsüber ist der Spinnenmörder ein teils liebevoller, teils aufbrausender Familienvater namens Saeed Hanaei (Mehdi Bajestani), der mit seiner wesentlich jüngeren Frau und den gemeinsamen Kindern in einer Wohnung in Maschhad lebt. Wenn seine Frau außer Haus ist, um die Eltern zu besuchen, bricht Saeed zu seinen Touren auf, bringt pro Nacht eine Frau in seine Wohnung unterm Vorwand, ihr gegen Sex Drogen oder Geld zu geben, und erdrosselt sie mit dem eigenen Hidschab. Anschließend wickelt er die Tote in den Schleier und schafft sie aus dem Haus.

Einblicke in die patriarchale Gesellschaft des Iran

Abbasi zeigt teils drastische, erschütternde Details der Morde und erspart den Zuschauern auch nicht, den von Armut, Prostitution und Sucht gezeichneten Frauen beim qualvollen Ersticken zuzusehen. Insofern bedient sich Abbasi gängiger Motive westlicher Thriller der härteren Gangart und porträtiert den Mörder als janusköpfiges Monstrum. Darüber hinaus liefert er aber auch konkrete Einblicke in die patriarchale Gesellschaft des Iran, in der Frauen kaum etwas zählen und – wie im Fall der Frau des Serienkillers – die restriktiven Gebote aufgrund der täglichen Propaganda selbst oft als moralisch richtig verinnerlicht haben.

Männer wie der Spinnenmörder sind letztlich keine von individuellen Motiven, grausigen Lebensumständen oder psychiatrischen Auffälligkeiten getriebenen Täter, erzählt Abbasi, sondern Produkte eines Regimes, das solche Taten im Grunde billigt, sogar fördert – selbst dann, wenn es den Täter später vor Gericht stellt.

Die Wut der Verzweiflung beinhaltet eine Hoffnung

Abbasis Film steckt voller Abscheu gegen die Verhältnisse im Iran, gegen den Frauenhass, den Machismo und die allgegenwärtige Bedrohung, die Bürgern entgegenschlägt, die sich aus welchen Gründen auch immer nicht sittenkonform verhalten. Die Figur der bärbeißigen Journalistin, die allen Widerständen zum Trotz versucht, dem Mörder auf die Spur zu kommen, kann als Repräsentantin jener Iranerinnen und Iraner stehen, die aktuell gegen das klerikale Regime protestieren.

Man kann zwar bemängeln, dass Abbasi aus der Entfernung und aus purer, kaum differenzierender Wut auf den Iran blickt. Diese Wut der Verzweiflung beinhaltet aber vielleicht auch eine Hoffnung: dass sich endlich etwas ändert für die Menschen in heiligen Städten wie Maschhad, wenn genug andere das Elend dort mit eigenen Augen sehen.

Holy Spider: DK/D/S/F 2022. Regie: Ali Abbasi. Mit Sahra Amir Ebrahimi, Mehdi Bajestani. 119 Minuten. Ab 16 Jahren. Start 12.1.

Ali Abbasi und sein Film

Filmemacher
 Iranische Filmschaffende müssen oft gegen harte Restriktionen kämpfen. Jafar Panahi („Taxi Teheran“) zum Beispiel ist ein bekanntes Opfer des Regimes und aktuell inhaftiert. Anders als Panahi zog Ali Abbasi 2001 nach Europa und studierte in Dänemark. In seinen Filmen „Shelley“ (2016) und „Border“ (2018) nahm sich Abbasi noch fantastischer Sujets an.

Drehbedingungen
 Abbasi wollte den Thriller, den mehrere europäischen Filmförderinstitutionen mitfinanziert haben, in der Türkei machen, doch die dortigen Behörden erteilten ihm keine Genehmigung. Also hat er in Jordanien gedreht.

Oscar-Kandidat
 „Holy Spider“ hat international bereits Preise und Nominierungen eingeheimst. Bei der kommenden Oscar-Verleihung geht er in der Kategorie „Bester Internationaler Film“ ins Rennen.