Solch gllückliche Hymnus-Chor-Tage gibt es aktuell nicht – geprobt aber wird wieder Foto: Markus Brändli

Stuttgart singt wieder, Berlin bleibt stumm – und der Deutsche Musikrat sieht ein „erschreckendes Kulturverständnis“. „Stuttgarter Nachrichten“-Autor Nikolai B. Forstbauer zeigt, warum.

Stuttgart - Man mag es kaum glauben: Berlin bleibt stumm. Jedenfalls dann und dort, wenn und wo es um absichtsvoll gemeinsam angestimmte Töne geht. „In geschlossenen Räumen darf nicht gemeinsam gesungen werden.“

Berlin bleibt stumm

So steht es in der neuen „SARS-CoV-2-Infektionsschutzverordnung“ des Landes Berlin vom 23. Juni 2020. Was das heißt? Kein gemeinsames Singen, nirgends – und dies unabhängig von der Größe des Raumes und des Einhaltens von Hygiene- und Abstandsregeln. Stumm bleiben Profi- wie Amateurchöre. Wollen und sollen Kinder in Schulen und Kindertagesstätten singen, müssen sie ins Freie. Dies gilt offiziell bis zum 24. Oktober – haltbar aber dürfte diese Anordnung kaum sein.

Deutscher Musikrat läuft Sturm

Der Deutsche Musikrat, Dachorganisation der bundesdeutschen Musiklandschaft, zieht große Wortregister: „Die Entscheidung des Berliner Senats, gemeinsames Singen in geschlossenen Räumen zu verbieten, ist nicht nur unverhältnismäßig, sondern offenbart ein erschreckendes Kulturverständnis“, sagt Christian Höppner, Generalsekretär des Deutschen Musikrates. Ist dies also die verkehrte Corona-Welt: Gemeinsames Fliegen weckt Hoffnungen auf neue wirtschaftliche Höhenflüge, gemeinsames Singen ist hingegen gefährlich?

Stuttgart singt wieder

Der Blick in den Südwesten zeigt: Von der beschworenen „furchtbaren Vision einer verstummten Nation“ kann ernsthaft keine Rede sein. „Wir freuen uns, dass erste physische Proben wieder möglich sind“, lässt etwa der national renommierte Hymnus Chor wissen. Leiter Rainer Homburg ist denn auch hörbar erleichtert. Hatte er in unserer Zeitung vor vier Wochen noch gewarnt: „Wir haben die Kinder als Gesellschaft voraussichtlich für ein halbes Jahr in der lernbegabtesten Phase ihres Lebens aus dem Spiel genommen. Das ist Raubbau an den Potenzialen der Nachwachsenden“, richtet er seinen Blick jetzt nach vorne. „Wir gehen im Sommer ins Trainingslager, damit wir im September/Oktober konzertfähig sind.“

Hymnus-Chor probt auch im Freien

Ja, die jährliche Chorfreizeit in ländlicher Umgebung muss ausfallen. Rainer Homburg aber sieht dies auch als Chance: „Wir kommen in Stuttgart zusammen“, sagt er. Schon, weil es einfacher sei, hier auch einmal wieder mit dem ganzen Chor zu proben – dies dann „natürlich nur im Freien“. „Tolle Locations“ habe man bereits im Auge.

Bachchor-Chef Jörg-Hannes Hahn bleibt vorsichtig

An allen Ecken der deutschen Chorhauptstadt Stuttgart läuft der sängerische Betrieb wieder an. Das freut auch Jörg-Hannes Hahn. Der engagierte Kirchenmusiker und Leiter des Bachchores Stuttgart vermeldete vor einer Woche: „Welch schöne Nachricht – ab sofort dürfen wir wieder proben“.

In Stuttgarts größtem Stadtteil Bad Cannstatt hat der Bachchor die Lutherkirche zu einer weithin bekannten Adresse gemacht. Dort aber wird man den gesamten, 72 Köpfe zählenden Chor weiter nicht erleben können. „Ich habe mich entschieden, mit jeweils einem Drittel im Gemeindesaal der Lutherkirche zu proben“, sagt Hahn. Zurückgestellt ist auch die Vorstellung des neuen Programms. „Im Herbst“, sagt Hahn, „wissen wir alle mehr“, dann sei für die Präsentation immer noch Zeit.

Das gesungene Wort wirkt anders

Auch wenn Stuttgart aktuell für Sängerinnen und Sänger viel schöner ist als Berlin – Einschränkungen bleiben also auch hier. Dieses aber ist für Jörg-Hannes Hahn nach den stummen Wochen unstrittig: Die christlichen Gottesdienste verlieren ohne Gesang enorm an Wirkung. „Das gesungene Wort“, sagt Hahn, „geht ganz anders zu Herzen“.

Musikrat will bundesweite Regelung

Nicht nur deshalb kämpft der Deutsche Musikrat weiter für eine Neuregelung in Berlin. Generalsekretär Christian Höppner sieht das Sänger-Leid dort als Aufruf, unterschiedliche Regelungen in der Corona-Pandemie zu kritisieren. „Dieses Beispiel“, so Höppner, „zeigt einmal mehr, wie dringend notwendig die Koordination der Studienlage durch die Bundesregierung ist“.