Grete Pagan will das Junge Ensemble auf vielfältige Weise gerechter machen. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski/Leif Piechowski

Das Junge Ensemble Stuttgart ist eines der erfolgreichsten Theater. Die neue Chefin Grete Pagan will es noch gerechter machen – „auch wenn es manche nervt“.

Ältere Theaterbesucher kennen das Problem: Sprechen Schauspieler nicht deutlich, wird es schwierig mit dem Verständnis. Was aber, wenn man überhaupt nichts hört? Das Junge Ensemble Stuttgart (JES) geht neue Wege. Während sich Theater bisher ganz selbstverständlich nur an Hörende richten, stehen auf dem JES-Spielplan auch Stücke, bei denen Gebärdensprache eingesetzt wird. Eine der Schauspielerinnen dolmetscht – als Teil des Ensembles.

Gebärdensprache bereichert das Theater

„Gebärdensprache ist eine wahnsinnige Bereicherung für die Bühne“, sagt Grete Pagan. Im vergangenen Jahr hat sie die Intendanz unterm Tagblattturm übernommen und startet nun mit dem JES in ihre zweite Spielzeit mit einem Stück, das Theatergeschichte schreiben könnte: „Unsere neue große Welt“. Das „Wimmelstück“ richtet sich nicht nur an die Allerkleinsten, also Kinder von zwei Jahren an, sondern es ist auch für alle konzipiert – ob sie hören können oder nicht.

Die Produktion, die seit mehreren Jahren im Spielplan ist, wurde neu aufbereitet – und dabei auch gleich etwas städtischer. „Es war schon sehr dörflich und harmonisch, was da auf der Bühne passierte“, sagt Grete Pagan. Spricht man mit der vierzigjährigen Regisseurin und Theaterchefin, merkt man schnell, dass mit ihr ein neues Zeitalter im JES eingeläutet wurde. Sie wählt ihre Sprache sehr sorgsam und ist dabei immer um Geschlechtergerechtigkeit bemüht – und spricht lieber von der Theaterpädagogik statt den Theaterpädagogen und vom „Kurationsteam“ statt dem Kuratorenteam.

Bei Lutz Hübners Stück wird „toxische Männlichkeit“ gestrichen

Aber auch inhaltlich kann man das Streben um Gerechtigkeit ablesen. Es gibt spezifische Angebote nur für Mädchen oder für Jugendliche mit Behinderung. Das Thema Gender spielt im Club „Queer*town“ und auf der Bühne eine Rolle. Lutz Hübners Stück „Das Herz eines Boxers“ wird in einer veränderten Fassung herauskommen, weil das Original „ sehr heteronormativ“ sei und voller „toxischer Männlichkeit“ stecke, meint Pagan. „Dass wir eine Gender-Ungerechtigkeit in der Gesellschaft haben, ist einfach so“, sagt Grete Pagan, „deswegen hören wir auch nicht auf, Projekte dazu zu machen – auch wenn es manchen auf den Keks geht.“

Forschungsprojekt: Wie ticken Jugendliche?

Dass das JES mit diesen aktuellen Themen Erfolg hat, zeigen die gestiegenen Publikumszahlen, wobei es mühsam bleibe, Jugendliche zu erreichen. „An Grundschulen ist der Wert von kultureller Bildung mehr verankert“, sagt Pagan, „bei den weiterführenden Schulen ist es schwierig, wenn sich der Theaterbesuch nicht direkt mit dem Lehrplan verbinden lässt.“

Deshalb will das JES in einer Art Forschungsprojekt mit Theatern in Norwegen und Tschechien untersuchen, was sie bieten müssen, damit Jugendliche das Gefühl haben, mit dem Angebot „gemeint zu sein“. Ein Rezept erprobt man längst: das Einbinden des Publikums. Im vergangenen Jahr standen eine Schauspielerin und ein Kind gemeinsam auf der Bühne. Im November kommt auf Anregung von Kindern ein Fantasy-Stück heraus, das eigens geschrieben wird.

Mindestlohn erhöht den Finanzdruck im Theater

Finanziell steht das JES „mittelgut da“, sagt Grete Pagan. Sie hat einen Antrag für den nächsten Doppelhaushalt eingereicht, um die gestiegenen Gehälter bezahlen zu können, aber auch, um das JES noch inklusiver zu machen. Wobei das Stuttgarter Theater längst Vorreiter ist nicht nur bei Theater für Gehörlosen. Es werden sogar schon Vorstellungen angeboten, bei denen sehbehinderte Zuschauer per Kopfhörer erfahren, was auf der Bühne passiert.

Unsere neue große Welt: 30. 9. , 19 Uhr im JES unterm Tagblattturm

Das JES – ein Stuttgarter Erfolgsmodell

Nominierung
Gleich zwei Produktionen des Jungen Ensembles Stuttgart sind im Rennen um den Deutschen Theaterpreis „Der Faust“: Grete Pagan ist nominiert für ihre Inszenierung „Aus der Kurve fliegen“. Außerdem ist „Hotel Europa“, die letzte Produktion unter der Intendanz von Brigitte Dethier in der Kategorie Raum in der Endrunde.

Festival
Im Juni kommenden Jahres wird das JES wieder das internationale Festival „Schöne Aussicht“ ausrichten. Hierzu haben Grete Pagan und Frederic Lilje das Team erweitert, das wegweisende Inszenierungen nach Stuttgart einladen wird. adr