Anne-Sophie Mutter Foto: picture alliance/Patrick Seege

Ein deutscher Klassik-Weltstar wird 60 Jahre alt: Anne-Sophie Mutter. Nach außen wirkt ihre Karriere makellos, doch sie selbst sieht auch Krisen, Sprünge und Erschütterungen. Und manches in der Politik und im Musikbetrieb würde sie gern gründlich verändern.

Die Weltklasse-Geigerin Anne-Sophie Mutter wird 60 Jahre alt. Schreckt sie die runde Zahl? Was denkt sie über Politik? Und darf man im Konzert zwischen den Sätzen klatschen? Wir haben uns mit Mutter darüber unterhalten.

Frau Mutter, es sind nur wenige Tage bis zu Ihrem 60. Geburtstag am 29. Juni. Freuen Sie sich darauf, oder haben Sie ein wenig Angst vor der runden Zahl?

Ich freue mich auf jeden Geburtstag. Ich feiere gerne. Und es freut mich sehr, dass meine Kinder dabei sein werden. Es stimmt mich natürlich auch traurig, dass mein Mann, der Vater meiner Kinder, kurz nach seinem 60. Geburtstag verstarb. Umso bitterer, weil ich jetzt weiß, wie man sich mit 60 Jahren fühlt – nämlich sehr gut.

Mit welchen Gefühlen und Gedanken schauen Sie zurück auf Ihr bisheriges Leben?

Gar nicht. Ich schaue grundsätzlich nicht zurück. Natürlich sind wir alle auch das Ergebnis unserer Vergangenheit und müssen darüber reflektieren, was wir an Gepäck herumtragen und wo es noch Änderungsbedarf gibt. Jeder Tag ist für mich eine Lernstunde im Umgang mit meinen Kindern, meinen Stipendiaten. Ich habe kürzlich mit meinem langjährigen Klavierbegleiter Lambert Orkis und meinem früheren Stipendiaten Maximilian Hornung am Cello das „Ghost Trio“ von Sebastian Currier in Wroclaw europäisch erstaufgeführt. Darin zitiert der Komponist viele Geister aus der Vergangenheit – nicht nur Beethovens „Geistertrio“, sondern auch Musik von Felix Mendelssohn, Johannes Brahms und einigen mehr. Auch in der Musik gibt es eine produktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich mein Hobby zu meinem Beruf machen konnte.

Sie sind bereits mit 13 Jahren international bekannt geworden, weil Sie mit den Berliner Philharmonikern unter Herbert von Karajan bei den Salzburger Pfingstfestspielen debütierten. Sie hatten zumindest von außen betrachtet seit dieser Zeit nie eine musikalische Krise. Oder gab es doch Sprünge, Zweifel oder Rückschläge?

Alles davon. Es gab in meinem privaten Leben Situationen, die mich aufs Äußerste erschüttert haben. Und auch in meinem musikalischen Leben haben sich Herausforderungen ergeben, bei denen ich eigentlich sicher war, dass ich scheitern würde. Aber ich besitze eine unstillbare Neugier – und bin auch der Meinung, dass Scheitern nichts Schlimmes ist. Rückschläge sind immer ein Teil des Weges. Meine Frustrationsgrenze ist extrem hoch. Aufgeben gibt es für mich nicht.

Die Freiburger Fernsehjournalistin Sigrid Faltin hat einen 90-minütigen Dokumentarfilm über Sie gedreht, der am 25. Juni in der ARD gezeigt wird. Der Titel „Vivace“ suggeriert, dass es in Ihrem Leben schnell zugeht. Man erfährt auch, dass Sie nie müde sind – außer, als Sie eine Corona-Infektion hatten. Woher nehmen Sie die Energie?

Das haben Sie etwas überspitzt dargestellt. Meinen Kindern fiel auf, dass ich müde bin – daraufhin habe ich am nächsten Tag einen Coronatest gemacht, der positiv war. Aber es stimmt: Ich habe viel Energie. Das war schon als Kind so. Und wenn ich einmal nicht schlafen kann, wird gearbeitet. Frau Faltin fiel diese Facette meiner Persönlichkeit auf – deshalb wählte sie „Vivace“ als Titel. Ich hätte eher „Presto“ genommen.

. . . was in der Musik noch ein bisschen schneller ist als „Vivace“ . . .

(lacht) Aber auch ich bin mal müde, keine Sorge.

Der Tennisspieler Roger Federer, dessen Fan Sie sind, erzählt im Film, dass er sich bei einem Konzertbesuch in Luzern gewundert habe, dass zwischen den Konzertsätzen nicht geklatscht werde. Auch sei er von seinem Nachbarn gerügt worden, weil er Sie kurz mit dem Handy filmte. Sie antworteten Federer, dass diese Strenge ein Fehler der klassischen Musik sei. Was würden Sie gerne anders haben im Klassikbetrieb?

Das Abfilmen von Konzerten finde ich grundsätzlich störend und überflüssig, da die Aufnahmen in der Tonqualität grauenvoll sind. Es ist natürlich auch urheberrechtlich verboten. Darüber hinaus empfinde ich den Konzertbesuch allerdings häufig besonders im Vergleich zur Oper oder zum Ballett als befremdlich zurückhaltend seitens des Publikums. Ich persönlich finde es nicht schlimm, wenn zwischen den Sätzen geklatscht wird. Es geht im Konzertsaal nicht um das Befolgen eines Benimmknigge. Wenn man etwas großartig findet, kann man auch mal nach einem Konzert laut schreien vor Begeisterung. Das mache auch ich – und werde dafür manchmal schräg angeschaut.

In der Coronapandemie beklagten Sie in der politischen Debatte die fehlende Wertschätzung der Musik und der Musikausübenden. Hat sich Ihrer Meinung daran inzwischen etwas verändert?

Besonders bitter ist es für uns Musiker, dass wir inzwischen wissen, dass das gesundheitlich begründete Wegsperren eine völlig falsche Entscheidung war – diesbezüglich ist auch Gesundheitsminister Lauterbach inzwischen sehr viel einsichtiger. Natürlich verfügten wir damals auch nicht über das Wissen, das wir heute haben. In der Vergangenheit hat man Musiker in der Politik gerne als Kulturbotschafter eingesetzt, um ein gutes Klima für Wirtschaftsverhandlungen mit China oder Russland zu schaffen. Aber wenn die Musik den Politikern keinen direkten Nutzen bringt, wird sie als verzichtbar angesehen. Sir Simon Rattle hat kürzlich in einem Interview zu dem von der bayerischen Landesregierung gestoppten neuen Konzertsaal in München gesagt, man scheine sich mit dem Erreichten zufriedenzugeben – und das in einem Bundesland, das immer wieder die Wichtigkeit von Innovation betont.

Jetzt können überall wieder uneingeschränkt Konzerte veranstaltet werden, aber das Publikum bleibt zumindest in Teilen weg. Ist klassische Musik für die breite Gesellschaft doch nicht so wichtig wie angenommen?

Ihren Eindruck teile ich nicht. Ich war jetzt zweimal in der Oper, in „Rusalka“ in München und in „La Bohème“ in New York, habe einen Liederabend von Jonas Kaufmann gehört – alles ausverkauft, auch meine Konzerte. Natürlich hat die Coronapandemie gerade beim älteren Publikum Spuren hinterlassen. Manchen ist ein Konzertbesuch vielleicht zu anstrengend geworden. Und vielleicht hat es sich der eine oder andere auch bequem eingerichtet auf der Couch. Im letzten Jahr spürte man noch eine größere Zurückhaltung, aber das Publikum ist fast zur Gänze zurück. Jetzt sollten wir genießen, dass wir uns wieder begegnen dürfen.

Was bedeutet Musik für Sie?

Musik macht das Leben um so vieles reicher und emotional tiefer. Musik führt in wunderbarer Weise Menschen zueinander, weil im Moment des Konzerterlebnisses alle gleich sind und alle die gleichen Emotionen haben. Das hat schon etwas Befriedendes.

In der letzten Szene im Film verlassen Sie mit Ihrem Dackel Bonnie ein Restaurant, in dem Sie sich nach einer langen Wanderung in den Kitzbüheler Alpen mit dem Filmteam gestärkt haben – und verabschieden sich mit den Worten: „Auf zu neuen Ufern.“ Wohin geht es nun für Sie?

Das ist mein Leitspruch. Außerdem sage ich noch gerne zu meinen Kindern: „Follow me!“ – und alle müssen dann lachen, weil mein Orientierungssinn leider nur auf der Bühne existiert. Die Hinwendung zu neuen Dingen, neuen Kompositionen, neuen Erfahrungen ist aber wirklich eine Konstante in meinem Leben. Das galt vor dreißig Jahren genauso wie heute.

Karriere
 Anne-Sophie Mutter, Jahrgang 1963, ist im badischen Wehr aufgewachsen. Mit fünf Jahren nahm sie Geigenunterricht, 1976 debütierte sie im Konzert in Luzern. Seitdem ist sie auf allen Konzertbühnen der Welt zu Gast. Ihr erster Ehemann Detlef Wunderlich verstarb 1995. Die Ehe mit ihrem zweiten Ehemann, dem Dirigenten André Previn, wurde 2006 geschieden.

TV
 Die Journalistin Sigrid Faltin hat einen 90-minütigen Dokumentarfilm über die Künstlerin gedreht: „Anne-Sophie Mutter – Vivace“ ist am 25. Juni um 23.05 Uhr in der ARD zu sehen, danach in der Mediathek.