Draußen Bäume, innen Holz: anders als die Generation Golf sehnen sich die Millennials beim Wohnen nach Authentizität. Foto: Unsplash/Nachelle Nocom

Jede Generation hat ihr Lieblingsholz. Die Eltern studierten noch mit Kiefernholzregalen, ihre Kinder träumen von minimalistischen Eigenheimen in Eiche fein. Gemeinsam ist die ewige Sehnsucht nach dem Echten. Eine Introspektion im häuslichen Gemütswald.

Beim Anblick eines hellbraunen Regalbodens mit den nicht zu ignorierenden Astlöchern äußert sie sich spontan in Form von Übelkeit, Lästerattacken und Schweißausbrüchen, meist begleitet von Augenrollen und Netzhautreizungen.

Erstmals dokumentiert wurde die Kiefernholzallergie von dem Autor Florian Illies, die älteren Golf-Fahrer werden sich erinnern. Das Kiefernholz, so beschreibt es Illies in seinem Bestseller „Generation Golf“, breitete sich seit den 70er Jahren „in bundesrepublikanischen Oberstufenschüler-Zimmern und WGs aus wie ein Computervirus“.

Ivar, selbst gebaut

Deutschland war „innerlich bis oben vollgestellt mit Kiefernholz, man fühlte sich wie in einer gigantischen sozialdemokratischen Kiefernholz-Sauna“. Und wo das Kiefernholz im Übermaß die Zimmer zierte und Millionen ihre Leitzordner, Plattensammlungen und Bildbände vorzugsweise aus dem Verlag Zweitausendeins in die selbst gebauten Ivar-Regale von Ikea stopften, waren die ständigen Begleiter nicht weit: ausgelatschte Birkenstock-Sandalen, grobe Wollsocken, muffige Bundeswehrparkas vom Flohmarkt und eine Funktionsjacke von Fjällräven, ein Mitbringsel vom letzten Campingurlaub in Schweden, weil seinerzeit angeblich alles Gute stets aus dem Norden kam.

Wer sich mit diesem öko-alternativen, von Skandinavien-Klischees völlig durchdrungenen Lifestyle partout nicht identifizieren konnte oder wollte und auf die vor allem im akademischen Milieu grassierende Holzobsession auch dank dem Erfolg von Ivar dem Schrecklichen mit körperlichen Unverträglichkeiten reagierte, wandte sich Stahl, Glas und Kunststoff zu.

Glänzende Oberflächen

Man erkannte sich sekündlich in hochglänzenden Oberflächen, suchte wie ein postmoderner Narziss sein Spiegelbild in kratzempfindlichen Klavierlackmöbeln, putzintensiven Glastischen und gebürsteten Edelstahlfronten in Küche und Bad. Ansonsten war auch dieser anscheinend exzentrische Typus kein Sonderfall der bewegenden deutschen Möbelhistorie.

Die Deutschen sind vielleicht keine Reiseweltmeister mehr, dafür sind sie Einrichtungschampions, und das seit Jahrzehnten. Kein Volk gibt durchschnittlich jährlich mehr für Einrichtungsnippes aus. Die Konsumausgaben der privaten Haushalte für Möbel, Leuchten und Teppiche in Deutschland sind in den letzten Jahren tendenziell stetig gestiegen, auf ein bisheriges Rekordniveau von insgesamt rund 50 Milliarden Euro im Jahr 2022. Leider profitierte von dieser Obsession die heimische Industrie nur wenig, viele Hersteller und ihre Firmensitze residieren im Ausland.

Doch zurück in die vermeintliche Zukunft: Die 90er Jahre waren die Dekade der futuristisch anmutenden Möbel und Accessoires. Poppige Farben, künstliche Werkstoffe und aparte Neonlichtinstallationen bildeten das Gegenprogramm zur Natürlichkeitsoffensive der anderen. Die Qualität stimmte zudem. Philippe Starck, Achille Castiglioni, Ron Arad oder Werner Aisslinger waren die Designgötter 90er Jahre.

Tulpenförmige Schalenstühle

Unvergessen: Aisslingers tulpenförmiger Schalenstuhl namens Juli, den er für Cappellini entworfen hatte. Das markante Sitzmöbel hatte eine Schale mit einem Integralschaum, der bis dahin Autolenkräder abpolsterte. 1996 ging der Stuhl in Serie. Zwei Jahre danach wurde er in die Sammlung des Museum of Modern Art in New York aufgenommen – als erstes Sitzmöbel eines deutschen Möbelbauers seit Jahrzehnten.

Oder aber die bizarr geformte Zitronenpresse Juicy Salif, die Philippe Starck 1990 für Alessi gestaltete. Keine Ahnung, ob jemand mit diesem dreibeinigen spinnenartigen Monster jemals eine Südfrucht ausgequetscht hat, aber spektakulär ausgesehen hat das Teil auf jeden Fall. Bis heute ziert sie viele Küchen, wird zärtlich abgestaubt.

Starck, der französische Superstar unter den Möbeldesignern, hat zudem seit den 90er Jahren zahlreiche Sitzmöbel für die italienische Firma Kartell ersonnen, darunter den ikonischen Kartell-Stuhl Louis Ghost, der schließlich 2002 in Serie ging. Louis Ghost ist ein – anders als man auf den ersten Blick vermuten könnte – recht bequemer Armstuhl aus durchsichtigem und gern mal kräftig koloriertem Polycarbonat mit einem am Louis-quinze-Stil inspirierten Design.

Zum Reinbeißen schön: Die Farben erinnern nämlich an transparentes Fruchtgummi. Eine verblüffend gelungene Hommage an den Barockstil für alle jene designverliebten Bürgerinnen und Bürger war das, die in ihren Großstadtwohnzimmern nicht nur sitzen, sondern thronen wollten. Selbstverständlich war das alles nie so ernst gemeint, Design musste damals stets innovativ, mindestens witzig und am besten selbstironisch sein.

Irgendetwas ohne Kiefernholz

Über seine berühmte Zitronenpresse sagte Starck mal in einem Interview mit dem Magazin „Schöner Wohnen“: „Es war nicht mein Ziel, eine Zitruspresse zu entwerfen; obwohl sie eine Zitrone auspressen kann, ist sie vor allem dazu da, ein Gespräch mit der Schwiegermutter zu beginnen.“

Ständig wurde in den 90ern ironisiert, zitiert, dekonstruiert. Die Energiebilanz bei der Herstellung des Materials, der Arbeitsprozess war kaum der Rede wert. Interessanter waren völlig neue Materialien und Fertigungsprozesse, aufregende Designer-Lebensläufe und möglichst cool klingende Firmennamen. Auf jeden Fall irgendetwas ohne Kiefernholz.

Heute ist jegliche Effekthascherei verpönt. Schwiegermütter-Witze sind gefährlich. Und für Experimente mit Werkstoffen wie Polyurethan in Schaumform, hysterisch buntes Acrylglas oder energieintensives Aluminium müssen Designer mittlerweile gute Argumente parat haben. Das gilt übrigens auch für ihre Kunden: Je weniger Künstlichkeit man in seinen vier Wänden vorfindet, desto nachhaltiger, politisch und ökologisch korrekter wohnt und lebt man. Mit anderen Worten: Holz. Holz. Und noch einmal: Holz.

Betritt man im Jahr 2023 ein frisch errichtetes Domizil, für dessen Innenausstattung ein viel beschäftigtes Architekturstudio, eine Interiordesignerin von sehr gutem Ruf oder gar die architekturaffine Bauherrschaft verantwortlich zeichnet, wähnt man sich wahlweise in einem Zen-Tempel oder einem Projektraum eines Museums für zeitgenössische Kunst.

Das Sofa ist und bleibt das Lieblingsmöbelstück. Auf dieser Insel der Gemütlichkeit verbringt der Durchschnittsdeutsche einer Umfrage zufolge täglich drei Stunden. Auch ein Flachbildfernseher gehört zum typischen Inventar. Dagegen verschwinden die dominanten Schrankwände aus der deutschen Wohnlandschaft. Sie werden überflüssig, weil sich Bücher oder CD-Sammlung digital speichern lassen.

Steigerung des Wohlbefindens

Holz gefällt, Holz macht gesund. Holz steigert angeblich das Wohlbefinden und hat eine beruhigende Wirkung auf das Herz-Kreislauf-System, behaupten sogar Schulmediziner. Holz wirkt zudem schall- und wärmedämmend und reguliert dadurch ideal das Raumklima.

Das Sehnsuchtsholz der Deutschen ist die Eiche in allen Varianten und Ausprägungen. Der Wohlfühlwald für die gute Designstube, davon träumen selbst die jungen Leute mit Bausparvertrag. Wertiges Eichenholz findet Verwendung als Parkettboden, Wandpaneele, Decke, Fassade, Möbelstück, Bilderrahmen, Kinderspielzeug, ja selbst in Nasszellen findet sich immer mehr davon. Der Trend dieser Zeit? So hell wie möglich, so echt und naturbelassen wie es nur geht.

Aber das kann sich schnell ändern. Zum Glück ist Eichenholz genügsam und modisch flexibel. Man kann so eine Eiche ölen, polieren, wachsen, bürsten und kalken. Sie altert in Würde, ihre Patina hat Stil.

Wer es ein bisschen anders in seinem privaten Holzrefugium haben will, der bestellt beim gut gebuchten Schreiner seiner Wahl Fichte, Tanne, Lärche, Zirbe, Eiche und Nuss, was selbstredend ins Geld geht. Die Holzpreise haben sich zwar mittlerweile stabilisiert, aber auf historisch hohem Niveau.

Holz muss man sich leisten können, genauso wie den kundigen Tischlerbetrieb, der alles nach Maß einbaut. Weil die Aufträge in den letzten Jahren nur so hereinprasselten, die Fachkräfte aber fehlen, sind die Wartezeiten auf Handwerker so lange wie noch nie. Wer einen guten kennt, der hütet seine Telefonnummer wie einen Schatz. Gut möglich, dass sich das gerade ändert, weil bald alle in diesem Land nur noch von Wärmepumpen statt von elegant gemaserten Designer-Eichentischen träumen.

Ach, ja, da wäre noch die Buche, die sieht man immer seltener – trotz ihrer hervorragenden technischen Eigenschaften. Noch unbeliebter ist eigentlich nur noch die Kiefer. Das praktische Ivar-Regal gibt’s immer noch bei Ikea, aber oft landet der Klassiker im Hobbykeller.

Auch die Buche verbaut man lieber dort, wo man sie nicht sofort entdeckt. Ihr Rotstich passt nicht zum Zeitgeist. Alles muss jetzt im klösterlich anmutenden Wohnzimmer nachhaltig, minimalistisch und authentisch sein – und bloß nicht ironisch. Irgendwas mit Eiche halt. Die lässigen 90er Jahre, sie werden nie mehr wiederkommen.