Margot Friedländer sprach mit Anne Will. Foto: IMAGO/Eberhard Thonfeld/IMAGO/Eberhard Thonfeld

Im ARD-Talk spricht die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer - und eine Israelin schildert die blanke Existenzangst ihres Landes.

Wieder eine fein austarierte Talkrunde von Anne Will zur Nahost-Krise mit der Leitfrage „Wie kann die Gewalt enden“, in der die palästinensische Sicht aber auch die israelische Position zum Tragen kamen, und jetzt schon lässt sich erahnen, dass die einfühlsame Moderatorin Anne Will den Zuschauern aber auch der ARD sehr fehlen werden, nachdem im Dezember nach 16 Jahren ihre letzte Sendung ausgestrahlt wird.

„Warum hassen Sie nicht?“

Der bewegendste Moment der Sendung am Sonntagabend fand am Schluss statt, es war ein eingespieltes Interview von Anne Will mit der 102-jährigen Holocaust-Überlebenden und Zeitzeugin Margot Friedländer, geführt in deren Wohnung, die Seniorin im Lehnsessel sitzend. Margot Friedländer schilderte, mit welchem Entsetzen sie die Reichspogromnacht von 1938 erlebte, wie sie da auf der Straße auf das Glas von zersplitterten Fenster jüdischer Geschäfte trat, wie Menschen sich an deren Sachen bereicherten und andere daneben standen und lächelten. „Da habe ich geahnt, das ist der Beginn von etwas Schlimmeren.“ Den Antisemitismus habe es immer geben, sagte Friedländer, dass er jetzt wieder aufflamme, das hätte sie so nicht erwartet. Aber dass sie vor Schülern und Schülerinnen spreche, das sei ja gerade deshalb, „weil es wieder passieren kann“.

Warum sie nicht hasserfüllt sei, wollte Anne Will wissen von Margot Friedländer, deren Familie im KZ ermordet wurde, und was sie sich nach der Gründung ihrer Stiftung für Erinnerungsarbeit „wünsche, was bleibt“.

Von Deutschen versteckt

Sie sei ja von Deutschen versteckt worden, antwortete Friedländer, die hätten sie gerettet und „Bett und Essen“ mit ihr geteilt: „Das werde ich ihnen nie vergessen.“ Sie wünsche sich, dass der Hass ende, nicht nur der Antisemitismus, sondern der Hass allgemein, dass die Menschen nicht mehr hassten. „Es gibt kein christliches, muslimisches oder jüdisches Blut. Wir sind alle Menschen, lasst uns leben.“ Jedem wohne etwas Gutes und etwas Schlechtes bei. „Vergiss das Schlechte!“, meinte Friedländer. Mensch zu sein, das sei so einfach.

Ein Land ist traumatisiert

Die Worte Friedländers lösten bei den Studiogästen viel Sympathie aus, vor allem beim Autor Abdul Chahin, der in Deutschland geboren ist und palästinensische Eltern hat, aber vom Ende des Hasses konnte in dieser Studiorunde noch keine Rede sein. Natürlich ging es über weite Strecken um die Verhältnismäßigkeit der Mittel, die die israelische Armee jetzt anwendet. Aber gleich am Anfang setzte die Deutsch-Israelin Jenny Havemann, eine Bloggerin, die in Tel Aviv lebt, einen starken Pflock in die Debatte, indem sie schilderte, wie viele in Israel nach dem Massaker vom 7. Oktober „wie in einem Albtraum“ lebten. Es sei mit dem Holocaust nicht vergleichbar, aber es gebe doch Parallelen, wenn junge Leute schilderten, wie sie sich bei dem Konzertüberfall vor der Hamas unter Leichenbergen versteckten, um zu überleben und wie die Menschen dass „an die Geschichten von ihren Großeltern“ erinnert. Ihr achtjähriger Sohn habe jetzt beispielsweise Angst, in den Gaza-Streifen entführt zu werden, die Menschen seien einfach traumatisiert.

Vertrauen auf Israels Armee

Sie selbst sei stets eine Kritikerin von Premier Netanjahu gewesen, sie werde ihn und die Regierung auch weiterhin kritisieren, aber die Gesellschaft stehe von links bis rechts hinter dem Anliegen, „unser Land und die Freiheit zu verteidigen“. Gefragt, ob sie nicht Mitleid mit den Opfern im Gaza habe, sagte Havemann, natürlich leide man mit, zumal wenn Kinder ums Leben kommen, aber sie verwies erneut auf die „Existenzangst“ und sie vertraue ihrer Armee, dass sie Zivilisten schütze.

Als es später um den wachsenden Druck der USA, der Vereinten Nationen und auch Frankreich auf Israel geht, da sagte Jenny Havemann, dass sich Israel „schon lange alleine fühlt“. Wenn jetzt der internationale Druck wachse – „dann ist uns das relativ egal“. Da warf dann Anne Will doch ein erstauntes „Echt?“ in die Runde. Natürlich hoffe man, so Jenny Havemann, auf weitere Unterstützung auch von den USA und Deutschland, „aber es geht um unsere Existenz, um unser Leben, wir müssen es verteidigen.“

Hamas bunkert Treibstoff

Nahe an die Position von Jenny Havemann rückten der Grünen-Parteichef Omnid Nouripour und der Nahost- und Terrorexperte Guido Steinberg, während zwei weitere Studiogäste eher skeptisch waren. Nouripour sprach zwar schon von einer „grauenvollen Situation im Gaza“, wo alle zehn Minuten ein Kind sterbe und wo die humanitäre Versorgung nicht ins Rollen komme und die Bundesregierung verweise zu Recht auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel hin: „Tatsache ist aber auch, dass die Raketen der Hamas weiterhin fliegen. Das muss aufhören.“ Die Verantwortung für das ganze Leid liege bei der Hamas. Sie bunkere Treibstoff für ihre eigenen Militärfahrzeuge, sie nehme Zivilisten noch die letzten Reserven weg, sie bauten Raketenbatterien auf Moscheen und beklagten dann, muslimische Gotteshäuser würden von Israel bombardiert. Würde man jetzt eine längere Waffenpause einführen, dann könne sich die Hamas regroupieren, befürchtet Nouripour. „Man muss die Wurzeln trocken legen und zwar jetzt.“ Im übrigen wäre eine diplomatische Initiative wünschenswert, vor allem von Ägypten und anderen Staaten, die mäßigenden Einfluss auf die Hamas hätten.

Plädoyer für Druck auf Hamas

Ähnlich auch die Sicht von Guido Steinberg. Er bemerkte, dass Israel die Zeit davon laufe, wenn die Militäroperation noch mehrere Monate oder ein Jahr dann sei das zu lang: „Die Bruchlinien zwischen Israel und den USA werden jetzt schon größer.“ Auch Steinberg meinte, dass ein Waffenstillstand nur der Hamas nütze. Israel reagiere nun auf ein Massaker mit 1400 Toten und müsse sich überlegen, wie es die verantwortliche Terrororganisation zerschlage. Sinnvoll seien allenfalls kürzere Waffenruhen, um die Zivilisten zu versorgen oder ihnen eine Flucht zu ermöglichen und Geiseln frei zu bekommen. „Aber Israel muss den Druck auf die Hamas hoch halten.“ Es müsse gleichzeitig dafür sorgen, „die Brücke zur Lokalbevölkerung“ im Gaza zu halten.

Schon der fünfte Gaza-Krieg

Diesen letzten Satz würde sicher auch Carl Bildt, der Ex-Ministerpräsident von Schweden und ein versierter Außenpolitiker, unterschreiben, ansonsten ging seine Analyse in eine andere Richtung. Man erlebe jetzt den fünften Gaza-Krieg, und Israel müsse „vorsichtig“ sein, dass es nicht Bedingungen schaffe, dass weitere folgten, „eine Explosion nach der anderen“. Wenn man zehntausend Tote in zwei Wochen habe, dann sei es schwer „hoch kochende Emotionen“ im Zaum zu halten und dann sei es schwierig, einen diplomatischen Prozess ins Rollen zu bringen. „Man muss jetzt ausloten, ob es nicht Möglichkeiten für einen politischen Prozess gibt.“ Gefragt von Anne Will, ob es noch eine Chance für eine Zwei-Staaten-Lösung gebe, wollte Bildt das nicht ausschließen. Langfristig müsse man Sicherheit für ein demokratisch-jüdisches Israel schaffen und eine Lösung für die Palästinenser. Eines der größten Probleme auf dem Weg zur Zwei-Staaten-Lösung sei die Siedlungspolitik im Westjordanland. Jenseits der Tagespolitik müsse nun geklärt werden, wie es mit den zwei Millionen Menschen im Gaza nach dem Ende der Militäraktion weitergehe, wenn die ohne Behausung aber auch ohne Regierung seien. Auch die Palästinenser brauchten „eine politische Perspektive der Hoffnung“.

„Ein Nährboden für Extremismus“

Für den Autor und Podcaster Abdul Chahin, ein Muslim, der sich um Aussöhnung bemüht und beispielweise mit jungen Muslimen die Gedenkstätte Auschwitz besucht hat, ist jetzt die Stunde der Politik gekommen. Er verstehe zwar den Instinkt von Israel, sich nach der „Riesentragödie“ vom 7. Oktober zu verteidigen und könne es auch nachvollziehen: „Trotzdem: Ich würde mir jetzt mehr Diplomatie wünschen.“ Der Kampf gegen die Hamas sei doch ein Kampf gegen „Geister“, die sich in Tunnel verflüchtigten und der „Kollateralschaden mit zivilen Opfern“ sei hoch. Es werde zu wenig über „die Relation“ gesprochen. Abdul Chahin sprach sich für einen Waffenstillstand aus, der sei erforderlich, um die Gewaltspirale zu beenden, „denn wie viele Extremisten wollen wir denn noch ernten, nach der Session, die da jetzt im Gaza abgeht“. Derzeit werde ein „Nährboden für Extremismus“ geschaffen. Chahin, Jahrgang 1992, schloss den Kreis zu den Worten von Margot Friedländer: „Es ist so einfach, ein Mensch zu sein.“ Bei seinen Fahrten mit Muslimen nach Auschwitz habe er bemerkt, wie nahe sich Judentum und Islam kulturell eigentlich stehen. Die Feindschaft werden „von Externen“ geschürt, der Nahost-Konflikt als „der große Klassiker“ aufgebauscht. Die meisten Muslime in Deutschland seien „zum Glück“ nicht extrem. Wenn man Begegnungen schaffe, dann werde die Feindschaft ausgehebelt „und wir können gemeinsam Humus essen“. Der Friede könne möglich sein, er sei „theoretisch“ so einfach, so Chahin am Ende der Sendung. Omnid Nouripour wollte daraufhin noch etwas sagen, doch Anne Will schnitt ihm das Wort ab: „Diesen Schlusssatz lassen wir so stehen.“