Von Martin Mezger

Stuttgart - Mit nobler Empfindung und verinnerlichter Leidenschaft singt der Solotenor seine Kantilene ins verschattete g-Moll des Orchestersatzes, erst auf das Wort „lacrimosa“ (tränenreich) in schluchzende Halbtonschritte ausbrechend. Dieser Beginn des „Stabat Mater“ von Joseph Haydn ist ein Signal: Noch vor dem Choreinsatz, vor der Stimme des gläubigen Kollektivs, steht der subjektive Ausdruck des Individuums. Damit unterstreicht Haydn den neuen Tonfall in seiner Vertonung der berühmten Sequenz, die in mittelalter-lateinischen Reimversen das Leid der Gottesmutter beim Anblick ihres gekreuzigten Sohns schildert, zu Empathie und Nachfolge Christi aufruft, schließlich ins Gebet um Erlösung im ewigen Leben mündet. Haydns Musik zu dem emotionalen und bisweilen drastischen Text hat ihre stärksten Momente, wenn sie den barocken, tonmalerischen Konkretismus des einzelnen Affekt-Worts aufhebt im großen Gestus klassischer Expressivität, in einer human-empfindsamen Melodik des Mitleidens und Reflektierens. Die Betrachtung einer Betrachtung - so die „Stabat Mater“-Situation - nähert sich einer Ästhetik des Ebenmaßes, ergreifend in ihrer Sublimation des Leidens zur Schönheit.

Genau diesen entscheidenden Wesenszug der Musik traf Frieder Bernius mit seinem Kammerchor und der Hofkapelle Stuttgart in einer kongenialen Aufführung im Hegelsaal der Liederhalle. Die milden und warmen Klänge namentlich in den mit Englischhörnern gefärbten Sätzen bezeugten eine Sensibilität des feinsinnigen Nach-Innen-Lauschens, die keine grellen Akzente nötig hat - und doch den Schmerz in erlesener Intensität zu akzentuieren weiß. Solch beherrschte Emphase ist hohe, dem Werk angemessene Kunst, zumal auch die opernhafte Dramatik in den beiden Bassarien in klarer Kontur ge-, aber nicht überzeichnet wurde.

Bernius’ Konzentration auf den Ausdruck der Musik selbst statt auf den Eindruck, den sie nach Interpretenwillkür zu schinden hat, verlieh auch den Chorsätzen die Dimension verbindlichster Klangsprache: völlig unforciert in der Tongebung, absolut homogen und durchhörbar, geschmeidig phrasierend und den Gestaltenreichtum in wunderbarer Balance artikulierend. Die Sopranistin Sarah Wegener glänzte - wie alle Vokalsolisten - mit feinem Schmelz und exzellenter Technik (nur die in die Amen-Fuge hineingeschnittenen Koloraturen gerieten etwas eckig). Marie Henriette Reinhold (Alt) sang edle Linien, manchmal vielleicht eine Spur zu teilnahmslos. Tenor Colin Balzer verströmte schlank-expressive Kantabilität (nur am Ende musste er mal um die Höhe kämpfen). Gekonnt verband der Bass Sebastian Noack Beweglichkeit und Nachdruck.

In Bachs Ostermontag-Kantate „Bleib bei uns“ (BWV 6) folgte Bernius hochsensibel dem elegischen Charakter des Werks. Den Eingangschor ließ er abwechselnd von zwei Chorhälften singen: keine authentische Praxis, sondern ein Vorgriff auf Bachs folgende doppelchörige Motette „Ich lasse dich nicht“ mit ihrer chaconneartigen Thematik, wundersam ausformuliert als sanft schwingender Wechselgesang.