Gérard Depardieu wird vorgeworfen, 2018 eine junge Frau vergewaltigt zu haben Foto: dpa/Jens Kalaene

Mal grob, mal zärtlich, eine gewaltige Erscheinung und doch fragil: Gérard Depardieu ist Frankreichs größter Schauspieler – und nun auch im Fokus der Justiz, die wegen sexueller Übergriffe gegen ihn ermittelt.

Das Verwirrende an Gérard Depardieu ist: Irgendwo in diesem Koloss von einem Mann klingt eine zarte Saite an. Die letzten sechs Jahre frönte das „monstre sacré“ des französischen Kinos, dieses geheiligte wie gewaltige Monstrum, einer neuen Leidenschaft: Er intonierte auf einer endlosen Frankreich-Tour Lieder von Barbara, die 1997 einige der schönsten französischen Chansons hinterlassen hat.

Man musste Depardieu erleben, wie er, in Schwarz auf der Bühne, nur von einem Klavier begleitet, sanfte Melodien sang, mit fragiler, manchmal nur gehauchter, bisweilen brechender Stimme. Da stand, so schien es, kein unersättliches Kinomonster mehr am Mikrofon, sondern eine verletzliche, empfindsame Seele.

Doch alle schlug der 130-Kilogramm-Goliath nicht in den Bann. Vor den Toren der Konzertsäle protestieren Frauen mit Transparenten gegen die Auftritte. „Sie zahlen für einen Vergewaltiger!“, riefen sie den Konzertgästen in Antibes zu; in Lyon störten sie das intime Rezital mit Schweinemasken. Damit war Depardieu gemeint: Der heute 74-jährige Charakterschauspieler wird von mehr als einem Dutzend Frauen schlimmster sexueller Übergriffe bezichtigt. Die französische Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Vergewaltigung. Das Monument wankt. Und Frankreich fragt sich, wie es möglich ist, dass ihr seit fünfzig Jahren vertrautes Kinogesicht, ihr Nationalheiligtum, nun auch ein Verfemter ist wie Harvey Weinstein.

Depardieus Mutter wollte ihn mit Stricknadeln abtreiben

Einen Teil der Antwort bietet eine wenig beachtete, nicht einmal 200-seitige Autobiografie, die Depardieu 2014 unter dem Titel „Ça s’est fait comme ça“ (etwa: Das hat sich so ergeben) veröffentlich hat. Damals war er noch nicht mit den heutigen Vorwürfen konfrontiert. In seiner bettelarmen Familie in der zentralfranzösischen Provinzstadt Châteauroux aß man nicht zusammen und wusch sich einmal die Woche. Depardieus Erzeuger, ein Schuhmacher und Analphabet, war ein schweigsamer Trinker; seine Mutter wollte kein weiteres Kind und versuchte es mit Stricknadeln abzutreiben. „Wenn ich diese Nadeln überlebt habe, vor wem hätte ich später noch Angst haben können?“, schreibt der Dennoch-Geborene. „Vor niemandem, auch nicht vor mir.“

Wegen Diebstählen fliegt Gérard von der Schule, kaum ist er zehn. Er hilft einem Älteren, auf dem Friedhof Särge zu plündern; er geht auf den Männerstrich und landet immer wieder im Knast, wo er sich mit den Flics gut versteht. Einer sagt ihm, er habe Hände wie ein Steinmetz. Eine Erleuchtung: Gérard beschließt, Künstler zu werden. Er packt drei Hemden und fährt mit dem Zug nach Paris. Dort landet er im Theater- und Filmmilieu, wo er als Autodidakt kleinere Rollen erhält, bis er in „Les Valseuses“ (Die Ausgeflippten) die Rolle seines Lebens einnimmt: Er spielt den gleichen Taugenichts, der er in Châteauroux gewesen war. Es ist der Durchbruch. Alle Regisseure reißen sich um den Sonderling mit der Knollennase – Truffaut und Resnais, Bertolucci und Ferreri, Peter Weir und Ridley Scott. Über die Jahre spielt Depardieu den Grafen von Monte Christo und Christoph Kolumbus, Danton und Obelix, Maigret und Rodin, in 182 Filmen ist er dabei.

Er heiratet mehrere Frauen, darunter seine Filmpartnerin Carole Bouquet. „Ich bin nie von einer Frau reingelegt worden, ich bin nur in meine eigenen Fallen getreten, wie ich es immer tue“, hält Depardieu in seinem knappen, unbarmherzigen Bericht eher sibyllinisch fest. Im Golf von Mexiko setzt der Vater zweier Kinder – sein Sohn Guillaume lebt nicht mehr, seine Tochter Julie ist Schauspielerin – für ein dubioses Ölförderungsprojekt Millionen in den Sand. Im Bordeaux-Gebiet und im Loiretal betätigt er sich hingegen recht erfolgreich als Winzer.

Der Mann, der vor nichts Angst hat, besucht Fidel Castro in Kuba, er verlegt sein Steuerdomizil ebenso provokativ nach Belgien; in Paris verkehrt er nacheinander mit dem linken Präsidenten François Mitterrand und dem Konservativen Nicolas Sarkozy. In Moskau freundet er sich mit Wladimir Putin an, weil der in Petersburg „wie ich fast Verbrecher geworden wäre“. Mit dessen tschetschenischem Adlaten Ramsan Kadyrow tanzt er den Kasatschok. „Ich, der Freund von Diktatoren?“, fragt er rhetorisch. „Et alors?“ Na und?

Sein Alkoholproblem übergeht Depardieu in seinem Lebensbericht. In Paris baut er auf seiner Yamaha T-Max mehrere Unfälle; auf einer Flugreise uriniert er in den Mittelgang. Ganz der Mann ohne Scham und ohne Angst, der seine Familie und sich selber hasst, aber niemandem Rechenschaft schuldet, der keine Leitplanken hat und keine Grenzen kennt, kurz: der macht, was er will.

Vor drei Jahren werden die ersten Vorwürfe laut

Vor drei Jahren hatte das ein Ende, als eine junge Schauspielaspirantin Klage gegen Depardieu wegen Vergewaltigung einreichte. Geschehen sei es am 7. und am 13. August 2018. Wie Überwachungskameras zeigen, betatschte der in Unterhosen gekleidete Depardieu die Frau an Brüsten und Schenkeln, während sie die Hände hinter dem Rücken hielt. Dann stieg er mit ihr in das Schlafzimmer hoch, wo es keine Kameras gab. Depardieu behauptet, die Frau sei ihm schon das erste Mal „freiwillig“ und „leichten Schrittes“ gefolgt, genauso wie sie ihn eine Woche später erneut besucht habe. Charlotte Arnould, so ihr Name, erklärt dies mit der „emprise“ (starker Einfluss), welche die Leinwandikone auf sie ausgeübt habe. Noch heute, fünf Jahre später, mache sie die Hölle durch.

Nachdem erste Vorermittlungen in dem Fall eingestellt worden waren, hatte die Justiz ab Sommer 2021 erneut ermittelt. Das nun wieder eingeleitete Verfahren könnte zu einem Strafprozess führen, falls die Ermittlungsrichter am Ende ausreichend Beweise gegen Depardieu sehen. Andernfalls könnten sie das Verfahren einstellen. Schon jetzt scheint ein Damm gebrochen. Im Newsportal „Mediapart“ haben sich 13 Frauen zu sexuellen Übergriffen Depardieus geäußert. Eine erzählte, er habe an einem stillen Drehort die Hosen runtergelassen. „Ich habe den Raum in Panik verlassen. Er holte mich im Gang ein und drückte mich gegen die Wand. Sein Bauch blockierte aber alles, sodass er nichts tun konnte.“

In der Filmbranche wurde lange geschwiegen

Die zwölf anderen Geschichten ähneln sich. Allen Aussagen zufolge herrschte in den Filmstudios eine regelrechte Omertà, ein Gesetz des Schweigens, wenn Depardieu den Schauspielerinnen Obszönitäten zurief, wenn er der Visagistin oder der Kellnerin im Bistro in den Schritt fasste oder brünstige Tierlaute von sich gab. Das erzählte der Schweizer Filmemacher Jacob Berger, der mit Depardieu 2001 den Film „Liebe deinen Vater“ drehte. Auch die Schauspielerin Anouk Grinberg berichtete von einem „ohrenbetäubenden Schweigen“, wenn Depardieu beim Drehen Frauen erniedrigte. Alle hätten gelacht. „Ich hatte damals keine andere Wahl, als mit der Meute zu lachen, um dem König zu gefallen.“ Andere Filmpartnerinnen Depardieus äußern sich zurückhaltender. Sandrine Bonnaire hat „nie eine schockierende Szene mit Depardieu erlebt“. Catherine Deneuve, Carole Bouquet oder Fanny Ardant schweigen heute auffällig, nachdem sie Depardieu lange verteidigt hatten.

Der Beschuldigte beteuerte Anfang Oktober, er sei „kein Vergewaltiger oder Raubtier“: „Falls ich andere verletzt oder schockiert habe, entschuldige ich mich, dass ich mich wie ein Kind benommen habe, das die Galerie belustigen will.“

Depardieu hat seit 2021 keinen Film mehr gedreht, zuerst wegen Covid, dann wegen der aufkommenden Vorwürfe. Bekannte berichten, der Bulimiker lese nur noch Peter Handke und Thomas Bernhard. Im Oktober hat Depardieu über seinen Agenten verlauten lassen, er verfolge „keine Projekte“ mehr. Ist das endgültig? In seiner Autobiografie von 2014 hatte der Inhaber eines französischen, russischen und emiratischen Passes geschrieben, er habe gelernt, sich etwas Neuem zuzuwenden, wenn es im Leben eng werde. Er brauche eben Platz: „Am liebsten wäre mir die erhabene Schönheit, die Verlorenheit der Hochebenen in Kasachstan.“