Leidenschaftliche Fußballfans: Andrea Kunkel und Michael Heide, Wirtsleute der Krone in Birkach und Betreiber des Gästehauses Andrea Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Das Gas aus Katar gönnen wir uns, aber eine Fußball-WM in Katar ist böse. Wie mit diesem Widerspruch umgehen? In der Krone in Birkach wollen sie sich den Fußball zurückholen – und zeigen die Spiele.

Sie lieben Fußball – und einander. Welche Liebe größer ist, darüber ließe sich diskutieren. In ihre Trauringen haben Andrea Kunkel und Michael Heide „You never walk alone“ eingravieren lassen, die Hymne des FC Liverpool. Fußball ist ein wichtiger Teil ihres Lebens. Die VfB-Fans haben Dauerkarten für die Cannstatter Kurve, Stehplatz selbstverständlich; in ihrer Kneipe, der Krone in Birkach, zeigen sie die Spiele des VfB. Und wie so viele Anhänger des Spiels standen sie vor der Frage: Wie halten wir es mit der WM in Katar? Ihre Antwort fiel anders aus als die anderer Wirte. Sie haben sie groß auf ein Transparent drucken lassen, das draußen an der Fassade ihre Lokals hängt. „Wir holen uns den Fußball zurück!“

Was sagt Amnesty International?

Sie zeigen die Spiele der deutschen Mannschaft. Unter dem Motto: „Kein Rassismus! Keine Homophobie! Keine weitere Kommerzialisierung! Kritisch sein! Und trotzdem: Fan sein! Fußball gucken!“ Die vielen Ausrufezeichen liegen vielleicht daran, dass es vorher so viele Fragezeichen gab.

Es ist eine Haltung, für die sie die bestmögliche Kronzeugin haben. Ellen Wesemüller von Amnesty International hat der „Zeit“ gesagt, dass sie Fußball schaut: „Ich bin Fußballfan und sehe gerne guten Fußball. Das deckt sich ganz gut mit dem, was wir bei Amnesty sagen: Fußball ja, Ausbeutung nein. Man kann das eine tun, ohne das andere zu lassen, nämlich die Missstände in Katar zu kritisieren.“ Es stürzt einen ins Dilemma. Wie sagt es Michael Heide: „Wir lassen uns den Fußball nicht wegnehmen.“ Wenn man ganz ehrlich sei und fürderhin diese Maßstäbe anlegt, „dürfen wir gar keinen Profifußball mehr zeigen“.

Viele Fragezeichen

Um es mit der Spider Murphy Gang zu sagen: Skandal! Moral? Es wird ja nicht einfacher, wenn man tiefer eintaucht und versucht, sich schlau zu machen. Was Kunkel und Heide versucht haben, bevor sie sich entschieden haben. Wie viele Gastarbeiter sind in Katar gestorben? Laut Organisationskomitee sind 40 Arbeiter beim Bau an Stadien, Hotels und Trainingsplätzen zu Tode gekommen. Amnesty International würde aber gerne wissen, wie es beim Bau der weiteren Infrastruktur aussah, also Straßen et cetera. Darauf gibt es keine Antwort. Zum Vergleich: In Deutschland starben 2020 97 Bauarbeiter. Dann gibt es die Zahl 15 021. Die stammt von Amnesty International, es sind dies alle ausländischen Bürger, die laut katarischer Statistikbehörde zwischen 2010 und 2019 in Katar gestorben sind. Wo und warum, weiß man nicht. Daran gibt es lautstarke Kritik, dies hätte man untersuchen müssen, sagen Menschenrechtler. Andererseits werden auch in Deutschland nur etwa 1 bis 3 Prozent aller Toten obduziert.

WM im Winter? Eine Frage des Wohnorts

Was macht man nun damit? WM-Spiele zeigen oder nicht? „Der Boykott kommt zu spät“, findet Heide, „die WM hätte niemals dorthin vergeben werden dürfen.“ Und er findet auch, bei der Diskussion in Deutschland ist „viel Heuchelei“ dabei. Nicht nur, weil wir das Gas aus Katar gerne nehmen. Die Kataris beuten die Gastarbeiter aus Pakistan und Nepal aus. Wir lassen die Migranten von dort gar nicht erst zu uns, sondern sie im Mittelmeer ertrinken – oder anderswo sterben. Nahezu unbeachtet.

In Melilla kamen am 24. Juni mindestens 23 junge Afrikaner am Grenzzaun ums Leben, als sie versuchten nach Spanien und in die EU zu kommen. Die Fifa ist korrupt bis ins Mark, das ist Allgemeinwissen. Aber hat uns das gestört, als wir 2006 das Sommermärchen gefeiert haben? Nun ist die WM im Winter, ungewohnt – aber nur aus europäischer Sicht. Für die Hälfte der Welt fand bisher die WM immer im Winter statt.

Das Geld ist knapp

Es gibt so viele Widersprüche. Skandal! Moral? Kunkel und Heide haben sich dafür entschieden, diese Widersprüche auszuhalten. Sie zeigen die Dokus, die klarmachen, dass in Katar nicht nur der Ball, sondern auch die Menschenrechte mit Füße getreten werden. Sie zeigen aber auch die Spiele der deutschen Nationalmannschaft. Im besten Falle sieben Stück bis zum Finale. Und womöglich noch die ein oder andere vielversprechende Partie.

https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.fussball-wm-in-katar-es-braucht-ein-signal.654b6a4b-8a2a-47d4-a01f-475dc706848a.html

Auch, und da wollen sie nicht heucheln, aus „wirtschaftlichen Überlegungen“. Dafür, die VfB-Spiele zeigen zu dürfen, zahlen sie 600 Euro im Monat. Nun ist die Liga zwei Monate im Winterschlaf, die Kosten laufen weiter. Und um mit der Krone und ihrer Pension, dem Gästehaus Andrea, Corona und die Lockdowns zu überstehen, mussten sie Schulden machen. Da tut jedes verkaufte Bier gut. Zwischen 10 und 90 Menschen kommen vorbei, wenn der VfB zu sehen ist.

Die Gäste haben abgestimmt

Fußball ist eben mehr als die bestechlichen Funktionäre der Fifa, als sündhaft teure Edelkicker. Fußball ist auch der TSV Birkach, der in der Kreisliga B „unten im Tal“ spielt. Nicht immer gut, aber mit viel Engagement. Er ist der Gemeinsinn, die Freude, „klassenlos“, wie Heide sagt. Alter, Beruf, Verdienst, Geschlecht? Alles schnuppe, wenn sie dem VfB zugucken. Und auch vom Wohnheim des Behindertenzentrums kommen sie gerne in die Krone, wenn Fußball läuft. „Etwas ganz Großes“ sei das für die Bewohner, sagen sie im Behindertenzentrum. Und so war es naheliegend, dass Kunkel und Heide ihre Gäste fragten, ob sie WM schauen wollen. Sie wollten – weil sie Fußball lieben.