Jorge Vilda dirigiert seine Mannschaft vom Spielfeldrand aus. Foto: AFP/Michael Bradley

Spaniens Nationalteam wird von einem Mann geführt, der in erster Linie Fußballlehrer sein will. Sein Konzept geht auf – die Mannschaft steht im Finale der WM, obwohl etliche Weltklassespielerinnen fehlen.

Es hat natürlich gedauert, bis Jorge Vilda aus dem Knäuel glücklicher Menschen im Eden Park von Auckland wieder auftauchte. Gefühlt eine Ewigkeit hatte sich Spaniens Coach mit seinen wichtigsten Helfern nach dem Kraftakt im WM-Halbfinale gegen Schweden (2:1) am Spielfeldrand umschlungen. Derweil bildeten seine Fußballerinnen weitere vom Glück geküsste Gruppen, die sich in den Armen lagen. Dass Trainerteam und Spielerinnen nach dem Einzug ins WM-Finale im ersten Moment überbordender Gefühle getrennt voneinander jubelten, musste wohl so sein.

Auch wenn die Zweckgemeinschaft allmählich zu einer Einheit zusammenwächst, sind noch nicht alle Wunden der Vergangenheit vernarbt, wie Vilda später in entwaffnender Ehrlichkeit einräumte: „Die Unterstützung von Luis Rubiales, dem Präsidenten des Verbandes, wird mir immer in Erinnerung bleiben, ebenso wie die meiner Familie, die in diesem Jahr gelitten hat.“ Letztendlich, führte der 42-Jährige fort, sei es „ein Lernprozess, der uns alle stärker gemacht hat“. Das musste also vor dem Endspiel am Sonntag in Sydney (12 Uhr MESZ/ZDF) noch mal gesagt werden, nachdem der Trainer viel von „Seele und Magie“ gesprochen hatte.

15 Topspielerinnen protestierten gegen Verband und Trainer

Niemand hätte nach der Gruppenphase darauf gewettet, dass dieses Team in Sachen Flexibilität, Mentalität und Durchsetzungsvermögen besser als die USA, Japan und nun auch Schweden auftrumpfen würde. Vor dem Turnier galt eine finale Reise nach Sydney als Ding der Unmöglichkeit. Bekanntlich hatten vor knapp einem Jahr 15 Nationalspielerinnen in einem Protestbrief an den Königlich-Spanischen Fußball-Verband (RFEF) ihren Rücktritt erklärt, um Veränderungen einzufordern. Viele der Vorwürfe trafen Vildas Verantwortungsbereich, hinter vorgehaltener Hand war von Sturheit und Respektlosigkeit die Rede, gerade gegenüber Reservistinnen, doch der Verbandschef Rubiales dachte gar nicht daran, einen treuen Angestellten vor die Tür zu setzen. Konnte das für die Seleccion bei der WM gut gehen?

Aus dem Kreis der Rebellinnen, „Las 15“, kehrten nur drei zurück, dafür aber mit Ona Batlle, Aitana Bonmati und Mariona Caldentey elementare Eckpfeiler. Weiterhin fehlen die Stammtorhüterin Sandra Paños, Abwehrchefin Mapi Léon und Strategin Patricia Guijarro, also die zentrale Achse vom FC Barcelona. Das wäre ungefähr so, als hätte Joachim Löw bei der WM 2014 in Brasilien auf Manuel Neuer, Jérôme Boateng und Toni Kroos verzichten müssen – und trotzdem das Finale erreicht.

Jorge Vilda ist nun nur noch einen Schritt vor der Krönung zum Weltmeistercoach entfernt. Viele hatten hierfür eigentlich Pia Sundhage oder Martina Voss-Tecklenburg auf dem Zettel; Brasiliens Nationaltrainerin und die Bundestrainerin sind nach der Vorrunde mit ihren Teams heimgeflogen. Die beiden charismatischen Persönlichkeiten hatten ihre Titelmission mit überwölbenden Botschaften zur Gleichberechtigung, gesellschaftlichen Akzeptanz bis hin zur Vorbildrolle ihrer Fußballerinnen versehen. Vilda hingegen gibt als klassischer Fußballlehrer den Kontrapunkt, der mit seinen Analysten lieber jedes Wochenende Dutzende von Spielen und Hunderte von Spielerinnen analysiert. Weil er alles über Stärken und Schwächen wissen und auswerten will. Intern heißt es manchmal, dieser Mann kenne jeden Fehlpass, jeden Stellungsfehler seiner Frauen auswendig. Aber ist das ein Fehler?

Vilda traf auch unbequeme Entscheidungen

Der Trainer scheute sich nicht vor unbequemen Entscheidungen. Als das letzte Gruppenspiel gegen Japan (0:4) verloren ging, brachte Vilda im Achtelfinale gegen die Schweiz (5:1) seine zuvor noch nie im Nationalteam eingesetzte Torhüterin Cata Coll, obwohl die 22-Jährige in Barcelona nur Ersatz ist; er stärkte im Zentrum Teresa Abelleira von Real Madrid, obwohl es in der heimischen Liga auffälligere Mittelfeldspielerinnen als die 23-Jährige gibt. Der Verband förderte das Zusammenwachsen, indem jede Spielerin 15 000 Euro erhielt, damit Freunde, Familie oder Angehörige nach Neuseeland kommen konnten. Vilda sieht jetzt eine Gemeinschaft, die noch „nie so komplett“ gewesen sei.

Um die Genugtuung des gebürtigen Madrilenen zu verstehen, muss die Zeit noch ein bisschen weiter zurückgedreht werden. In die Jahre, als La Furia Roja eher als lästiges Anhängsel galt. Vilda kam nach der WM 2015 ins Amt, als es nach dem Vorrundenaus in Kanada eine öffentliche Meuterei gegen seinen kauzigen Vorgänger Ignacio Quereda gegeben hatte, der mehr als ein Vierteljahrhundert lang die Mängel wie ein Beamter verwaltete. Der junge Nachfolger bekam ein bisschen mehr Unterstützung, aber wichtiger als das Aufbrechen verkrusteter Strukturen war ihm die Weiterentwicklung jener Talente, die er zuvor viele Jahre bei den U-17- und U-19-Juniorinnen gefördert hatte.

Bereits bei der WM 2019 war das Aus im Achtelfinale gegen den Weltmeister USA (1:2) fast schon so unglücklich wie bei der EM 2022 das Scheitern im Viertelfinale gegen den Europameister England (1:2 nach Verlängerung). Trotzdem musste sich Vilda fragen lassen, ob unter ihm der große Wurf gelingt. Nun aber leisten seine Kritiker Abbitte. Wer vor Tagen fragte, ob dieses Team nun trotz oder wegen ihres Trainers bei der WM Türen aufstößt, die früher verschlossen blieben, hat die Antwort erhalten. Da hat einer ein so gutes Händchen bewiesen, dass ihm sogar Schwedens Taktikfuchs Peter Gerhardsson den Titel wünscht. „Ich hätte gern, dass mein Team so spielt wie Spanien“, sagte der 63-Jährige. Hätte auf dem Podium der Pressekonferenz der Kollege neben ihm gesessen, hätte es wohl eine weitere lange Umarmung gegeben.