Zu schön, um wahr zu sein: Barbara Herolds und Florian Huths Naturlandschaften sind computeranimierte Fakes. Foto: Städt. Galerien Esslingen Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Esslingen - Das vielleicht zehnjährige Mädchen hat den Kopf nach rechts gedreht. Ihr im Profil zu sehender Gesichtsausdruck zeigt ein Gefühl von Ungewissheit, von erstarrender Resignation eher als von greller Angst. Neben dem kaum bekleideten, dunkelhäutigen Kind steht ein großer, weißer Mann. „Erste weibliche Eingeborene gesehen und gefangen“, notierte er zu dem Foto. Es ist etwas verblichen seit dem Moment der Landnahme, seit der Siedler irgendwo in Australien tat, was Kolonisatoren rund um den Globus seit Jahrhunderten tun: Besitz ergreifen und die ursprünglichen Bewohner - die „Eingeborenen“ - zur Humanfauna erniedrigen, die es zu domestizieren, zu vertreiben oder zu vernichten gilt. Und in jedem Fall hat der weiße Mann das wilde Menschentier, und erscheine es noch so unbedrohlich, erst mal gefangen zu nehmen. Eine Tagebuchnotiz und ein Foto war es ihm wert. Man ist ja dokumentarisch korrekt.

Der australische Künstler Brook Andrew, selbst indigener Abstammung, hat jenes und andere Fotos aus den Kolonialarchiven des Kontinents auf Großformat gezoomt und auf Leinwand reproduziert. Verfahren und Wirkung erinnern an Andy Warhol. Wie in dessen „Death and Disaster“-Bildern zeitigt die optische Unschärferelation paradoxe Wahrnehmungsfolgen: Das Schemenhafte und Verblasste der Bilder schärft die Erinnerungskontur für die kritische Wiederkehr des Verdrängten aus den kollektiven Gedächtnisschattenzonen der sogenannten Zivilisation.

Kein „Wir“ und „Die“

Arbeiten Brook Andrews sind Teil der Gruppenausstellung „Networking the Unseen“ in der Esslinger Villa Merkel. Das Netzwerk für das Ungesehene (oder die Ungesehenen) spannt sich hier von indigenen australischen zu europäischen Künstlern - und es reflektiert das weltweite Netz selbst, Nutzen und Nachteil der globalen Online-Virtualienmärkte. Kuratiert von der in Australien aufgewachsenen Künstlerin Gretta Louw, derzeit Esslinger Bahnwärter-Stipendiatin, geht es in der äußerst vielschichtigen, brisant aktuellen Schau selbstverständlich um postkoloniale Kritik, durchaus auch im Sinne der Anklage; aber es geht um kein „Wir“ und „Die“, erst recht um keine rosigen Versöhnungsübungen, die vom hohen Gutmenschenross herab die Schmach des Kolonialismus zu tilgen versuchen, indem sie die Kolonisierten erneut unterwerfen, nämlich den Bedürfnissen des schlechten Zivilisationsgewissens. Und es geht vor allem um keine Ethno-Kunst, auch wenn traditionelle Ornamentik bei den indigenen Künstlern einen ähnlichen Stellenwert hat wie vergleichbare Muster in der europäischen Kunst.

Vielmehr wird die Frage gestellt, was weltweite Online-Bedingungen für die kulturelle wie individuelle Diversität bedeuten. Gefahr der globalen Nivellierung oder emanzipatorisches Potenzial zur Wahrung der eigenen Identität? Die Antwort ist, versteht sich, ambivalent. Beispiel in der Ausstellung: eine App, die im Warnayaka Art Centre, einem von einer indigenen Community getragenen Kulturzentrum mitten in der australischen Wüste, generiert wurde. Die Emojis auf dieser App entstammen der eigenen Lebenswelt: Emus statt Schneeprinzessin - ein Versuch, dem Silicon-Valley-Kulturimperialismus zu entkommen und doch zu kurz gesprungen, wenn nicht der Inhalt, sondern das Medium die Botschaft ist.

Wie die Botschaft sich das Medium zu eigen macht, zeigen zum einen die an die Arte Povera erinnernden materiellen Verwandlungen von Gebrauchs- in Kunstwerte, etwa von Auspuffrohren in skulpturale Bilder von Schlangen oder Echsen mit Fahrradkette als Schwanz. Zum anderen dokumentiert die Dreikanal-Videoinstallation „The Phone Booth Project“ von Lily Hibberd und Curtis Taylor in der Aneignung technischer Kommunikationsmittel durch indigene Australier eine Kontinuität der Botschaften über die Medien hinweg, vom Handy über verrostenden Telefonzellen bis zurück zum Rauchsignal, das von einer älteren Frau geschildert wird.

Es bleibt in der Schwebe, ob das Medium oder seine emanzipatorische, subversive, mit eigenem Leben erfüllte Nutzung die Oberhand behält. In einer Arbeit von Jenny Fraser scheinen Muster der Dressur, der Abrichtung, der manipulierenden Machtstukturen auf, im eigenen Beitrag von Kuratorin Louw wird das vermeintlich frei schwebende Virtuelle selbst auf seine physische Basis bezogen - und damit auf einen Neokolonialismus rückbezogen, der es erst möglich macht: Ohne die Ausbeutung von Kobalt und seltenen Erden etwa in afrikanischen oder lateinamerikanischen Ländern, verbunden mit Kinderarbeit und wirtschaftlich-politischer Kriminalität, fehlten der schönen digitalen Welt die nötigen Rohstoffe für ihre Geräte. Im luftig-harmlosen Wort „Cloud“ für internetbasierte Speicher-, Kommunikations und Anwendungsdienste spiegelt sich für Louw die Propaganda-Lüge von der virtuellen Realität, die in Wahrheit geerdet sei in der Zerstörung realer Lebenswelten. Louw ersetzt das wolkige Bild daher durch jenes der Qualle, die faszinierend und doch bedrohlich über die Monitore wuchert.

Solche Destruktionstendenz des Virtuellen schlägt in Barbara Herolds und Florian Huths „Woodlands“-Video um in eine entschleunigte Beschwörung intakter Naturlandschaften, die allesamt computeranimierte Fakes sind: zu schön, um wahr zu sein - eine Wiederkehr des Zerstörten als Sehnsuchtsbild. Damit aber auch eine so polemische wie sentimentalische Selbstbehauptung gegen den Cyber-Trug.

Wie im Zeitalter von Big Data und digitaler Reproduzierbarkeit nicht zuletzt der Unikat-Charakter von Weltkunst schwindet, haben Nora Al-Badri und Jan Nikolai Nelles mit einer Aktion erprobt: Mit einem 3D-Scanner kopierten sie die Nofretete-Büste im Berliner Ägyptischen Museum und stellten sie ins Netz - unter Protest des Museums. In Esslingen ist ein originalgetreuer plastischer Ausdruck zu sehen - das Original ist ein Datensatz. Auch dies führt uns diese wahrhaft bedenkenswerte Ausstellung nebst vielem anderen vor Augen.

Bis 4. März. Öffnungszeiten: dienstags von 11 bis 20 Uhr, mittwochs bis sonntags von 11 bis 18 Uhr. Führungen beginnen dienstags um 18.30 Uhr und sonntags um 15 Uhr.