Mitautorin des Frauenbuchs: Helga Müller. Foto: Alt-Cannstatt/Olaf Schulze

Helga Müller hat im ersten Buch über Cannstatter Frauen acht Porträts geschrieben. Sie freut sich über das Ergebnis und berichtet beispielhaft über drei Frauen.

Bad Cannstatt - Auch für die ehemalige Lehrerin Helga Müller war es eine große Freude, das fertige Buch in Händen zu halten. Die 66-jährige Cannstatterin hat acht Porträts darin geschrieben und freut sich über das fertige gesammelte Konvolut, in dem sie permanent nach Lust und Laune blättern kann, wie sie sagt. Stellvertretend für das Team berichtet sie von drei Frauen, die sie bei ihren Recherchen besonders beeindruckt haben. Sie hätte im Laufe der Buch- und Ausstellungsarbeit nicht gedacht, dass sich in Bad Cannstatt so eine reichhaltige, vielfältige und prominente Frauengeschichte ergeben würde.

Zu den beeindruckendsten Cannstatter Frauen, die sie porträtiert hat, zählt Lenore Volz (1913-2009). „Ich hatte mal eine Kollegin, die so hieß“, sagt sie. Und sie wusste nur, dass es eine Pfarrerin war. Doch was für eine. Das hat sie im Lauf der Recherchen herausgefunden. Sie sei in den 50er Jahren Motorrad gefahren. Sie sei für ihre Zeit so modern, aufgeklärt und selbstbewusst, hartnäckig und furchtlos gewesen. „Ich bewundere sie sehr.“ Sie kam aus einem Elternhaus, das sie bestärkt habe in ihrer Einstellung zur Kirche und zu den Menschen. Sie habe einen unglaublichen Gerechtigkeitssinn gehabt und eine Cleverness gegenüber Männern. Sie habe sich für mehr Gleichberechtigung in der Kirche eingesetzt. „Wie sie es geschafft habe, die Männer dazu zu bewegen. Sie hat sich auch durch Rückschläge nicht demotivieren lassen“, sagt Müller. Sie freut sich, dass Pfarrerin Hoy mit ihren Konfirmanden bei einer Führung war und diese Vorbildfigur in ihr Berufsfeld mit aufgenommen habe. Heute trägt die fusionierte Gemeinde den Namen Lenore Volz, außerdem ist eine Straße nach ihr benannt. Müller hat auch den Patensohn ausfindig gemacht und mit ihm Kontakt aufgenommen.

Eine „romantische Geschichte“ verknüpft die Autorin mit Elisabeth Oehler-Heimerdinger (1884-1955), einer Schriftstellerin und Missionarsfrau, die durch ihre Post die kulturelle Brücke von China nach Bad Cannstatt schlug. Sie stammte aus einem Kaufmannshaus in der Brunnenstraße, in dem heute Sport Haizmann ist. Eine sehr christliche, tolle Familie. „Alles lief rund.“ Sie war die älteste Tochter und wäre gerne Lehrerin geworden. Doch dies wurde ihr untersagt. Sie solle warten, bis sie geheiratet werde. In der Kirche hat sie bei Besuchen den Bruder ihrer Freundin bewundert, den Sohn des Dekans Wilhelm Oehler. Er ging als Missionar nach China und schickte ihr ein Telegramm aus China, dass er sie heiraten wolle. Sie hatten zuvor keinen persönlichen Kontakt gehabt. Die Frau reiste von Genua aus zu ihm und machte den Schritt in eine glückliche Ehe. Lange Jahre lebte sie in China und fing an zu schreiben. „Daraus wurde eine Schriftstellerkarriere.“ Sie war Pfarrersfrau, hatte vier Kinder, kam nach Cannstatt zurück und schrieb in ihrer Mittagszeit viele Bücher. „Sie war eine Integrationsfigur für die Familie“, sagt Müller.

Und als Drittes beschreibt sie Gudrun Ensslin, die RAF-Terroristin. „Das war heikel“, sagt Müller. Sie habe sich lange mit Olaf Schulze unterhalten, ob sie es machen sollen. Doch sie gehöre zu Bad Cannstatt und zur Geschichte. Müller hat lange über Ensslin recherchiert. „Es ist mir sehr nahe gegangen“, sagt sie. Sie hat versucht, die Geschichte auf Bad Cannstatt zu konzentrieren. So berührte sie die Tragik, die Pfarrer Ensslin in der Luthergemeinde habe aushalten müssen. Und noch eine Überraschung: „Er war Kollege von Frau Volz in der Luthergemeinde. Im Buch gibt es ein Bild mit beiden drauf.“ Es sei ihr sehr zu Herzen gegangen, was die Familie ausgehalten habe, wenn man Kinder habe, die man liebe und es aufgrund der Ethik nicht auszuhalten sei. Müller hat herausgefunden, dass Gudrun Ensslin ihre Verlobung mit Bernward Vesper im Kursaal gefeiert hat, dem späteren Vater ihres Kindes Felix. Der Sohn Felix Ensslin war an der Kunsthochschule Stuttgart als Dozent tätig. Sein Vater habe sich das Leben genommen, als Gudrun Ensslin im Gefängnis war. Ensslin hat auch Germanistik studiert und sich mit denselben Autoren beschäftigt wie Müller. Sie hat es erstaunt, wie sich Ensslin aus einer Pfarrerfamilie stammend so in die Radikalität verlieren konnte. „Ich habe mich gefragt, wo sie ihre Kurve nicht mehr gekriegt hat“, sagt Müller. Das sei ihrer Einschätzung nach in dem Moment gewesen, als sie mit Andreas Bader zusammengekommen sei. „Das war die Vermischung zwischen emotionaler Liebesbeziehung und der Offenheit für ihre Ideen und die eigene Radikalität“, sagt Müller, bei der man keinen einzigen Kompromiss eingegangen sei. Aber auch die Beziehung zu Vesper sei schon schwierig gewesen, da Vespers Vater Will Vesper Nazi-Dichter gewesen sei.

Dass sie sich einmal an so vielen Frauenporträts versuchen würde, hätte sie nicht gedacht. Wer sich mit ihr unterhält, spürt die Begeisterung und den Forschergeist, die vielen Schicksale zu durchdringen. Angefangen hat es bei ihr mit Elisabeth Mann. Die Vielfalt der einzelnen Geschichten habe so viel Potenzial, Denkanstöße zu geben, sich damit zu beschäftigen. Vieles hat das Buch bereits bewirkt, „alles freudige Überraschungen“, wie Müller sagt. Ein toller Querschnitt von speziellen Frauenbiografien ist entstanden. „Frauen sollten aus der Dunkelheit rausgeholt werden“, sagt Müller. Herausgekommen ist ein bibliophiler Schatz, der jeden inspirieren darf.