Von Verena Großkreutz

Stuttgart - Schleppenden Schrittes betritt Maurizio Pollini die Bühne im voll besetzen Beethovensaal. Sobald er sitzt, sind die Tasten des Flügels in Bewegung. Pollini spielt auf seinem eigenen Instrument, einem vom Klaviertechniker Angelo Fabbrini frisierten Steinway. Arnold Schönbergs Zwölfton-Miniaturen, die Sechs Klavierstücke op. 19, spielt der gebürtige Mailänder als sehr zarte Ouvertüre. 74 Jahre alt ist Pollini. Die Werke Frédéric Chopins waren stets der Kern des Repertoires dieses ganz Großen unter den Pianisten. Sie sind in sein Gedächtnis und seinen Bewegungsapparat eingebrannt. Er spielt auch an diesem Abend viel Chopin: Nocturnes, Balladen, das h-Moll-Scherzo. Man hört ihn, den Herbst eines langen, erfüllten Künstlerleben: Am Verglühen der Kraft, wenn sich Sommer- zu Winterfarben wandeln, wenn Fortissimo-Akkorde aufbrausen, als wolle der Pianist sich dem Unaufhaltsamen entgegenstellen. Chopins feine Des-Dur-Berceuse spielt Pollini als zärtlich verwehendes Wiegenlied, während dem h-Moll-Scherzo bei allem Furor der dämonische Zahn fehlt. Aber immer wieder scheint es auf: das klare, strukturierte und brillante Spiel.

Nach der Pause vollzieht sich eine wunderbare, rührende Wandlung. Pollini scheint in Claude Debussys zweitem Préludes-Zyklus - spätestens ab den „Feuilles mortes“ (Herbstlaub) - deutlich verjüngt, in der Körperhaltung wie im Zugriff. Es geht nicht so sehr um den virtuosen Schwung und die Lautstärke, sondern um die sensible klangliche Konstruktion aus Melodik und Rhythmik. In dieser vorwiegend Natureindrücke und -stimmungen widerspiegelnden pianistischen Poesie geht Pollini auf, erwacht seine Differenzierungskraft zu neuem Leben. Nuanciert, intensiv, farbig gestaltend lässt er die Feen tanzen, bis sich final das grandiose Feuerwerk entladen darf. Im Rausch der Verjüngung lässt es sich Pollini nicht nehmen, zwei sehr opulente Zugaben zu spielen: Debussys „Versunkene Kathedrale“ und Chopins g-Moll-Ballade. Das jubelnde Publikum ist überglücklich.