Von Dietholf Zerweck

Stuttgart - Mit vier Jahren begann er Violine zu spielen, erst mit 14 wechselte er zum Klavier, ein Jahr später hatte Ingolf Wunder seine ersten Auftritte als Solist im Wiener Konzerthaus. Heute ist der österreichische Pianist als Preisträger des Chopin-Wettbewerbs in Warschau und Exklusivkünstler der Deutschen Grammophon fest in der Klassikszene etabliert, auf seiner jüngsten CD spielt er die Orchesterfassung von Franz Liszts „Hexaméron - Grandes variationes de bravoure sur le Marche des Puritaines“ mit der Warschauer Philharmonie. Das Original für Klavier war beim Meisterpianisten-Abend im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle der Höhepunkt eines ansonsten zwiespältigen Konzerts.

Anlässlich eines von der Prinzessin Cristina Trivulzio Belgiojoso veranstalteten Benefizkonzerts, bei dem sechs Pianisten je eine eigene Variation des Themas aus Bellinis „I Puritani“ vortragen sollten, kam es 1837 zum Piano-Duell zwischen Liszt und Sigismond Thalberg. Die Stücke von Chopin, Czerny, Henry Herz und Johann Peter Pixis wurden nicht rechtzeitig fertig, so wurden nur die ersten beiden Variationen aufgeführt. Das Urteil der Prinzessin: Thalberg sei der größte Pianist der Welt, aber Liszt sei einzigartig. Ingolf Wunder spielte das ganze „Hexaméron“ wie im Rausch: das banale Thema wird nach einer chromatischen Einleitung effektvoll in Szene gesetzt, Wunder entfacht ein pianistisches Feuerwerk, nach der Thalberg-Variation hat bei den anderen Teilen Liszt immer die arrangierenden Finger mit im Spiel, und das Finale - molto vivace quasi prestissimo - ist von brillanter Virtuosität.

Was das „Hexaméron“ an Exzentrik verlangt, bekommt einer Wiedergabe von Mozarts B-Dur-Sonate KV 333 oder Beethovens „Eroica-Variationen“ nicht so gut. Bei Mozart machte Wunder reichlich vom Dämpferpedal Gebrauch, was vielen Tönen unvermittelten Porzellanschimmer bescherte. In den Ecksätzen zeigte sich der Pianist eher vom Geist der Musik als von der Genauigkeit der Partitur inspiriert, Themen und Kadenz wirkten plakativ. Beethovens Introduktion, Variationen und Fuge Es-Dur fehlte es am Zusammenhang, hier betätigte sich Wunder als eigenwilliger impressionistischer Klangzauberer. Konsistenz und Übergänge waren dann auch beim ersten der beiden Nocturnes op.9 von Frédéric Chopin ein Problem: hier kam der Verlauf manchmal fast zum Stillstand, die melodische Struktur des b-Moll-Larghettos fiel öfters in sich zusammen, dynamische Mätzchen erzeugten rhapsodische Wirkung. Erstaunliches Formbewusstsein zeigte der Pianist dafür im Es-Dur-Andante, und in der Polonaise-Fantaisie As-Dur fand Ingolf Wunder endlich zu Ausdruck, Leidenschaft und überzeugender Gestaltung.

Nach dem von den Zuhörern im schwach besuchten Saal begeistert aufgenommenen Lisztschen „Hexaméron“ hinterließen auch die drei Zugaben zwiespältige Eindrücke. Chopins Polonaise „Héroique“ As-Dur war im Zusammenspiel von majestätischer Grandezza, parlierendem Balladenton und brillanter Virtuosität bravourös interpretiert, in Mozarts Fantasie d-Moll stürzte sich Wunder wie im Arpeggienrausch und bevorzugte wieder die vordergründigen Effekte. Höchst spannend und technisch phänomenal dann zum Schluss nach einem zweistündigen Programm das finale Rondo von Beethovens „Waldstein“-Sonate op.53: es schien, als hätte sich Wunder nun mit Begeisterung freigespielt.