Von Dietholf Zerweck

Stuttgart - Mit 13 Sängerinnen und Sängern 1946 im Auftrag der amerikanischen Militärregierung bei Radio Stuttgart gegründet, hat sich der ehemalige Südfunk-Chor unter seinen Dirigenten Hermann Josef Dahmen, Marinus Voorberg, Klaus Martin Ziegler, Rupert Huber und seit 2003 unter der Leitung von Marcus Creed zu einem der international renommiertesten A-Cappella-Ensemble entwickelt. Wie großartig die Kompetenz des SWR Vokalensembles speziell auf dem Gebiet der Moderne ist, zeigte das Festkonzert zum 70-jährigen Bestehen aufs Eindrücklichste. 270 Uraufführungen seit 1946, davon mehr als 170 Werke im vergangenen Vierteljahrhundert, zeugen von der herausragenden Stellung dieses „Spitzenchors“, wie der SWR-Intendant Peter Boudgoust im Hinblick auf den Kulturauftrag seines Senders das Vokalensemble bei seinen Begrüßungsworten im Theaterhaus lobte. Immerhin hat das VE der Wegrationalisierung durch Boudgousts Vorgänger Peter Voß widerstanden - im Gegensatz zum Schicksal des RSO und der SWR-Symphonieorchester Baden-Baden und Freiburg, die im 70. Jubiläumsjahr nun aufgelöst sind.

Mit Heinz Holligers „Die Jahreszeiten“ nach Hölderlin und Martin Smolkas „Poema de Balcones“ nach Fragmenten von Federico Garcia Lorca rahmten zwei Komponisten das Festkonzert, die dem SWR Vokalensemble durch zahlreiche Uraufführungen verbunden sind. Größer konnte der Kontrast der Ausdruckswelten kaum sein. Holligers „Scardanelli“-Zyklus, wie der umnachtete Hölderlin lyrische Texte im Tübinger Turmzimmer über dem Neckar unterzeichnete, enthalten auch jene Jahreszeiten-Gedichte, von denen Marcus Creed vier charakteristische Beispiele ausgewählt hatte.

Farbige Spektralakkorde

Im „Frühling II“ scheint die Natur zu Sprachkristallen zu gefrieren, bei „Sommer III“ ist der Text von den sieben solistischen Frauenstimmen syllabisch zerstückelt und singt von Verlorenheit, „Herbst III“ mäandert zwischen Daten-Rezitation im sprachlos Nebulösen, „Der Winter I“ formt Sprechakte der 16 Stimmen über bewegten Klangflächen. Gegenüber solch komplexer Strukturierung war Smolkas Komposition von raffinierter Einfachheit und überwältigender Klangfülle. Das „tanzende Meer“, welches Lorca in seinem Text evoziert, wird vom 34-köpfigen Vokalensemble mit großartigen Crescendi und unglaublich farbigen, sich ständig transformierenden Spektralakkorden beschworen, die Klangwogen wachsen und vergehen.

Nono, Ligeti und Kurtág waren im Festkonzert mit „Lieblingsstücken“ des Ensembles vertreten. Die „Drei Phantasien nach Friedrich Hölderlin“ von György Ligeti entwickeln sich von der madrigalen Harmonie der ersten Strophe von „Hälfte des Lebens“ zu Erstarrung und expressivem Aufschrei des „Weh mir, wo nehm’ ich, wenn / Es Winter ist, die Blumen“ und zum finalen „Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen“. Das dichte polyphone Geflecht, die ständig sich verändernden mikrotonalen Cluster des Fragments „Wenn aus der Ferne“ und die illustrativen Klangflächen der „Abendphantasie“ waren makellos gestaltet. Eng an den aphoristischen Texten sind die sechs Stücke von György Kurtágs „Omaggio a Luigi Nono“ musikalisiert: lakonisch und erregt, aufblühend und litaneiartig verlöschend, mit virtuos intonierten Sechsteltönen, die sich am Schluss zum reinen Dreiklang formen. Eine weitere Hommage an Luigi Nono, von dem der Südfunk-Chor 1975 im Funkhaus Köln Fragmente aus seiner Oper „Al gran sole carico amore“ unter der Leitung von Claudio Abbado uraufgeführt hat, war dessen doppelchöriger Canto „Sará dolce tacere“ für acht Solostimmen: Cesare Paveses Gedicht als suggestive Vertonung der Stille, mit ausdrucksvollster Intensität und Nuancierung von den Solisten des Ensembles gesungen, 1960 zur Hochzeit von Nonos politischem Engagement eine Vorahnung von dessen später Entdeckung tönender Innerlichkeit: „Schön ist das Schweigen. / Du, Erde und Weinberg. / Ein Schweigen aus Feuer / wird Land verbrennen / wie Leuchtfeuer, nachts“ lautet die Schlussstrophe in der Übersetzung Christoph Meckels. Clytus Gottwald als Gründungsmitglied des Kammerchors von Radio Stuttgart durfte beim Festkonzert natürlich nicht fehlen: seine Bearbeitung von Maurice Ravels „Le soupir“ ließ als Zugabe noch einmal die phänomenale Klangphantasie des SWR Vokalensembles erleben.