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Von Verena Großkreutz

Stuttgart - Schneeweiß leuchtet Andorra, der fiktive Ort, in dem Max Frisch 1961 sein Lehrstück über Ausgrenzung, Intoleranz, Schuld und Mitläufertum, über Antisemitismus und tödlichen Rassismus platzierte. Alles weiß getüncht: ob Häuser oder Pflastersteine. Schneeweiß ist auch die Weste der Andorraner - nach dem Mord am vermeintlichen „Jud“ Andri, einem jungen bodenständigen Mann, dem seine Tischlerlehre und seine Liebste Barblin Glück genug waren. Niemand war am Ende schuld, alle reden sie sich raus. Alle haben sie scheinbar gute Gründe für ihr Verhalten. Selbst der Mörder persönlich, der „Soldat“: Er habe nur seinen Dienst getan. Order sei Order. Solche Worte kennt man zu Genüge aus den Mündern der NS-Täter.

Frischs „Andorra“ hat nichts an Aktualität verloren. Neid und Hass auf alle, die man als „Fremde“ kategorisiert - ob Flüchtlinge, Einwanderer und andere Minderheiten - das ist längst schon wieder krasser Alltag in unserer Gesellschaft. Und weil Frisch in seinem Stück so schön plakativ demonstriert hat, wie das funktioniert mit den Klischees, Vorurteilen, Ängsten, Machtverhältnissen, ist sein Stück ein Dauerbrenner auf deutschen Spiel- und Lehrplänen. Wobei „Andorra“ gerade wegen dieser Plakativität gar nicht so einfach zu inszenieren ist. Frisch suchte ja nicht nach den Ursachen. Er stellte dar. Man muss deshalb nichts deuten oder erklären. Frisch sah sein Lehrstück über den Antisemitismus selbst als beispielhaft. Jede andere Art von Rassismus ist damit genauso gemeint. Weswegen eine Aktualisierung schnell zu bewerkstelligen wäre. In Stuttgart hat sich jetzt Regisseur Uwe Hoppe am Theater der Altstadt des Stückes angenommen. Und er geht den einfachen Weg: Keine Aktualisierung in Richtung Flüchtlingsthematik, keine größeren Eingriffe in den Text. Er inszeniert brav eins zu eins. Lässt den Text für sich sprechen: So was ist eben allezeit möglich. Wer eine texttreue, in der Zeit der Entstehung verortete Inszenierung sehen möchte, ist hier gut aufgehoben im Theater der Altstadt.

Authentisch und leidenschaftlich

Zwar staffierte Michael Bachmann die Bühne mit Unmengen von gelben Ikea-Zweisitzern aus, auf denen die Protagonisten sich räkeln, sich gegenseitig beäugen oder Amtsblatt lesen. Aber ansonsten hängt bleiern die Nachkriegszeit im Raum (Kostüme: Claudia Flasche). Der Sinn der riesigen Türe, die mitten auf der kleinen Bühne prangt, will sich dagegen nicht so richtig erschließen: Die ebenso überdimensionierte Klinke wird nur dreimal gedrückt: Einmal als sich Andris Geliebte dort verbarrikadiert, weil ihr die Heirat mit Andri vom Vater verwehrt wird - wie Andri selbst noch nicht wissend, dass er gar nicht das jüdische Findelkind ist, dass ihr Vater vor dem Pogrom im faschistischen Nachbarstaat der „Schwarzen“ gerettet haben will, sondern vielmehr dessen unehelicher Sohn, gezeugt mit einer Frau aus diesem feindlichen Staat. Ein zweites Mal schleicht sich der fiese Soldat in das Zimmer der jungen Frau, um sie zu vergewaltigen. Und am Ende verbirgt sich hinter der Türe ein großer Käfig, in dem nicht nur Andri, sondern auch etliche Andorraner inhaftiert werden, nachdem das Militär der „Schwarzen“ Andorra okkupiert hat.

Sehenswert ist die Inszenierung wegen ihres durchweg authentisch und leidenschaftlich spielenden Ensembles, allen voran Irfan Kars als charismatischer Andri, der zum „Juden“ erst wird, weil alle ihn als solchen sehen und mit ihren Blicken und Taten dazu machen, bis er sich selbst die fremde Identität aneignet. Regisseur Hoppe ist auch in Sachen typengerechter Besetzung kein Risiko eingegangen. Stefanie Friedrich etwa spielt Barblin als nettes, naives Mädchen. Bernhard Linke gibt den Soldaten als angemessen dumpfen Fiesling, der ständig auf Krawall aus ist. Ambrogio Vinella füllt die Rolles des Wirtes nicht nur körperlich, sondern auch durch eine bemerkenswert doppelbödige Darstellung aus. Am Ende gab es viel Applaus für die elf Akteure und Akteurinnen auf der Bühne.