Von Dietholf Zerweck

Stuttgart - Im Sommer wird er bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen alle 24 Präludien und Fugen von Dmitrij Schostakowitsch interpretieren, jetzt gab Igor Levit bei seinem Klavierabend im Stuttgarter Beethovensaal schon einmal einen Vorgeschmack davon: Eine kleine Auswahl aus dem Zyklus spielte er noch mit Notenblättern, doch die subjektive Verarbeitung scheint schon weit fortgeschritten. Sie ist sein Kennzeichen: Levit, der im März seinen 30. Geburtstag feiert, gilt als Meister der radikal subjektiven Interpretation.

Wie er Schostakowitschs cis-Moll-Präludium in der Art einer Invention Bachs angeht, die Diskanttöne fein ziseliert, die folgende Fuge tief und gewichtig auslotet, ist so erhellend wie die leidenschaftliche Entwicklung des Adagios in e-Moll oder die atemberaubend beschleunigte dynamische Aufladung und Virtuosität der gis-Moll-Fuge. Vieles in diesen Stücken ist in der Tat ein Reflex von Schostakowitschs intensiver Auseinandersetzung mit Bachs „Wohltemperiertem Klavier“.

Frederic Rzewskis für Levit komponierter und von ihm 2015 uraufgeführter Zyklus „Dreams II“ brachte die Performance-Qualitäten des Pianisten eindrucksvoll zur Geltung. Der mit „Bells“ überschriebene Teil entfaltete sich als anschauliches, dynamisch weit gefächertes Klanggemälde, in dem Levit seine außergewöhnliche Anschlagstechnik demonstrieren konnte. „Fireflies“ bot ein höchst spannendes instrumentales Theater, mit extremen Gegensätzen zwischen Klangzonen, hyperaktiven Trillern und explosiven Skalen. „Ruins“ erinnerte in manchen Passagen an die pianistischen Einfälle Rachmaninows, Prokofjews und Bartóks, und in „Wake up!“ verarbeitet der amerikanische Komponist ein Kinderlied von Woodie Guthrie - ganz unpolitisch, wie Levit mit einem Augenzwinkern erklärte. Doch für einen Komponisten, der mit „The People United“ dem Chile Salvador Allendes 1975 ein Denkmal setzte, dürfte der Hintersinn des Lieds kaum verborgen geblieben sein: „Open your eyes. Play with all the girls and boys. Wake up, wake up, wake up!“ Unter Levits Händen bekam der Appell rhapsodischen Witz.

Und dann nach der Pause Beethovens 33 Diabelli-Variationen. Diese fast einstündige Tour de force ist bei Levit ein furioses Wechselspiel der Gefühle, Stimmungen und Strukturen. Mit innerem Furor geht er schon das Walzer-Thema an, vom zyklopischen Akkordgebirge des majestätischen Marschs geht es hurtig ins elfenhafte Perpetuum Mobile, balladesk mit murmelnden Bässen zur virtuos exekutierten vierten Variation und nach Terzen-Hörnerklang zu der mit gemeißelten Pralltrillern gekrönten „Serioso“-Variation. Und danach ist noch nicht einmal ein Viertel dieses ungeheuer spannend dargebotenen Zyklus vergangen. Rasende Tempi, stürmische Synkopengewitter, dynamisch in aller Härte ausgereizte Marcati wechseln sich ab mit romantischen Nachtstücken, koboldhafter Theatralik wie im Leporello-Zitat aus Mozarts „Don Giovanni“ und jenen melodisch tief lotenden langsamen Sätzen wie dem „Largo, molto espressivo“ der 31. Variation. Was war hier mehr zu bewundern: Igor Levits unglaubliche Souveränität oder seine kühne subjektive Anverwandlung Beethovens?