Von Ingo Weiss

Stuttgart - Wer zu einem Runrig-Konzert geht ohne die Band und ihre Fans zu kennen, wird entweder mitgerissen und ist fortan ein getreuer „Riggie“, oder er findet den Faden nicht. Es gibt nur schwarz oder weiß - alles ist Runrig oder eben nicht. 1973 von den Brüdern Rory (67) und Calum Macdonald (62) gegründet, sind Runrig die Celtic-Rock-Legende schlechthin. In ihrer Heimat Schottland mobilisieren sie Menschenmassen, ihre Version des alten Traditionals „Loch Lomond“ ist die heimliche Nationalhymne. In der bis zum Rand gefüllten Stuttgarter Porsche-Arena verabschieden sich Runrig mit diesem gewaltig tosenden und ergreifenden Rock-Anthem, das eine Anklage gegen das Diktat der Angelsachsen in Schottland ist, bevor das Sextett a capella noch „Hearts of Olden Glory“ nachschiebt. Davor liegen zweieinviertel Stunden voller Magie und Mystik. Das Konzert ist ein mitreißender Parforceritt aus kraftvollstem Schotten-Rock und schwelgerischen Folk-Balladen, eine brillante Auslotung von Geschichte und Gegenwart, ein Balanceakt zwischen Leidenschaft und Melancholie.

Dramaturgisch ist das Programm perfekt zusammengestellt. Rasante Rocksongs wechseln sich ab mit überragenden Mitsinghymnen und anrührenden Balladen. Das Kopfkino hört keine Sekunde auf, Bilder faszinierender Berge, Lochs und Steilküsten, die die Höhen und Tiefen der schottischen Seele charakterisieren, zu produzieren. Die Videos komplettieren nur das Gefühl von einer musikalischen Reise. Schottland liegt für zwei Stunden direkt vor den Füßen der Fans. Mit den beiden stadiontauglichen Rock-Hymnen „Onar“ und „The Years we shared“ vom aktuellen Album „The Story“ stürzen sich Runrig kompromisslos ins Pathos. Mit dem ersten Höhepunkt „Pride of the Summer (Beat the Drum)“ und „Dance called America“ wird es bereits fulminant. Mit „Maymorning“, „Every River“ und „Flower of the West“ spielen sie sich und ihr Publikum vollends in einen Rausch. Die weit mehr als 6000 Fans sind eine treue Gemeinde, textsicher und erfahren in allen Klatsch- und Hände-hoch-Ritualen. Der Sound ist brillant.

Diese opulente Klangkulisse braucht es auch, um die euphorischen Melodien, die schwebenden, mitunter schmeichelnden Synthesizersounds, die dramatischen Trommelschläge und die schneidenden Gitarrenkaskaden der Band zu transportieren. Malcolm Jones ragt heraus - ein verspielter Saitenmagier und vielleicht einer der am meisten unterschätzten Rockgitarristen der Welt. In einem furiosen Drum-Guitar-Battle mit den Marschtrommlern Iain Bayne und Calum Macdonald, zelebriert er seine ganze Klasse. Zuvor begeistert auch der behütete Leadsänger Bruce Guthro mit der Solo-Ballade „Rocket to the Moon“. Seine Stimme ist eindringlich und herzergreifend. An diesem Abend ist der eingemeindete Kanadier ein „Roaring Scotsmen“ und ein würdiger Nachfolger von Donnie Munro, der für viele Fans bis heute als „Stimme Schottlands“ gilt.

Munro ist seit 20 Jahren Runrig-Geschichte, die die Band in „The Place where the Rivers run“ verarbeiten, das sich mit den Anfängen der Gruppe beschäftigt, als Runrig noch in Tanzlokalen der Hebriden aufspielte. Der Song stammt von „The Story“, ihrem vierzehnten Studiowerk. Es soll das finale Album sein, der Schwanengesang. Im überwiegend auf gälisch gesungenen Titelstück erinnert sich der alternde Protagonist an seine Frau und den ersten Tanz mit ihr.

Ein Kugelhagel an Runrig-Hymnen folgt. „Only the Brave“, die patriotische, kraftstrotzende Hymne „Alba“ und „Skye“ sind an Rasanz nicht zu überbieten. Über die Zugaben „When the Beauty“ und „Clash of the Ash“ fliegt der Schotten-Rock final zum „Loch Lomond“ hoch. Treibende Beats und stürmisch flirrende Gitarren kennen kein Halten mehr. Runrigs Story kann noch nicht zu Ende sein. Sie darf es nach diesem vollkommenen Konzert einfach nicht.