Im sogenannten Schattenakt schreiten im Hintergrund der mondlichtbeschienenen Bühne 24 Ballerinen des Tokyo Ballet nacheinander aus dem Nichts auf die Erde ­hernieder. Foto: Beuttenmüller Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart - „Ein Ritual, ein Gedicht über das Tanzen, das Erinnern und die Zeit“, so beschrieb die amerikanische Ballettkritikerin Arlene Croce die zentrale Szene aus „La Bayadère“. Im sogenannten Schattenakt schreiten im Hintergrund der mondlichtbeschienenen Bühne 24 Ballerinen nacheinander aus dem Nichts auf die Erde hernieder und wiederholen endlos, in einer meditativen Ruhe die immergleiche Schrittkombination, bis die Zeit zum Raum wird und man sich wirklich in einem wolkenverhangenen Elysium wähnt.

Es ist das Nirwana, wie man es sich 1877 am Exotismus-versessenen russischen Zarenhof vorstellte, wo Marius Petipa, der Erfinder fast all unserer Ballettklassiker, die Dreiecksgeschichte um einen Krieger zwischen Liebe und Pflichtheirat, eine Art indische „Aida“ choreografierte. Das entfernt von Goethes Ballade „Der Gott und die Bajadere“ inspirierte Tanzspektakel ist genau einen Monat älter als der gute alte „Schwanensee“ und trotzdem neu für heutige Ballettzuschauer, wurde es doch ein ganzes Jahrhundert lang nur in Russland getanzt.

Dabei bietet das Ballett zu Füßen des Himalaya reichlich Spektakuläres: Tempeltänzerinnen in bauchfreien Kostümen, einen komplett vergoldeten Solisten, ein Erdbeben und einen Elefanten - doch halt, auf letzteren verzichtet Natalia Makarovas Inszenierung leider, die das Tokyo Ballet am Wochenende auf Einladung seiner Stuttgarter Kollegen ins Opernhaus brachte. Die während des Kalten Krieges geflüchtete Starballerina trug dazu bei, das große russische Balletterbe in den Westen zu exportieren, so auch „La Bayadère“, die Makarowa 1980 fürs American Ballet Theatre zum ersten Mal in Szene setzte. In Deutschland kann man das Werk erst seit 1998 komplett sehen, nach dem Bayerischen Staatsballett in München zeigten es fast alle großen Kompanien: Wien, Berlin, Hamburg, Dresden, selbst Karlsruhe. Nur Stuttgart nicht - umso willkommener war nun die Erstaufführung im Opernhaus.

Denn das „Königreich der Schatten“, sprich toten Bayadèren, ist mitsamt seinen einzelnen Variationen und dem nur durch einen langen Schleier verbundenen Liebespaar tatsächlich der schönste „weiße Akt“ aller alten Klassiker, inklusive „Giselle“ und „Schwanensee“. Gerade ihn zelebrierten die japanischen Tänzerinnen in einer musikgeborenen, lyrischen Übereinstimmung, die so betörend wirkte wie das Opium, das der Krieger Solor raucht, um seine per Giftschlange ermordete Geliebte Nikija zu vergessen - ja, selbst der Plot klingt hier spannender als in den meisten anderen Balletten. Dass „La Bayadère“ in Stuttgart nie inszeniert wurde, mag an der extremen Frauenlastigkeit liegen, das männliche Corps de ballet hat praktisch nichts zu tun. Und doch hätte man sich einen der tollen Stuttgarter Solisten wie Friedemann Vogel für die Hauptrolle gewünscht, fiel der erdenschwere Dan Tsukamoto als Solor doch gegenüber den technisch erhabenen Damen stark ab. Nicht nur war Mizuka Ueno, die Primaballerina der Kompanie, mit ihrem feingliedrigen, lyrischen Stil und ihren langen Balancen eine Nikija von großer Stilreinheit, ganz die hingegebene, fast schon jenseitige Liebende, nicht nur war Akimi Denda eine erhabene Rivalin von kalter Schönheit - die Frauen des Tokyo Ballet beeindruckten in allen kleineren Solos und vor allem in einer perfekten Übereinstimmung sämtlicher Ensembles, wie man sie sonst nur bei den russischen Weltklassekompanien sieht. Ein alter Bekannter kehrte im virtuosen Tanz des Goldenen Idols zurück: Arata Miyagawa wurde auf der John-Cranko-Schule ausgebildet und ist in Tokio zum Solisten aufgestiegen.

Die Musik des Österreichers Ludwig Minkus, damals Hofkapellmeister des Zaren, erklang in einer stark veränderten Überarbeitung von John Lanchbery, das Original wurde erst um 2000 in Russland wiedergefunden. Schön zügig dirigiert vom Ballettspezialisten Valery Ovsyanikov, versuchte die Württembergische Philharmonie Reutlingen zunächst, dem Drama nach einen Tschaikowsky daraus zu machen, ließ sich dann aber mit schönen Bläsersoli und einer atmosphärischen Harfe auf den ruhigeren Ton ein, auf die feine Wiener Note dieses ewig unterschätzten Ballettkomponisten.

Mit den vielen spät entdeckten Ausgrabungen wie dieser ist im Ballett eine paradoxe Situation entstanden: Wir lernen die alten Werke nach den neuen kennen, die Klassik nach der Moderne. Es herrschte ein anderes Tempo damals, eine andere Ästhetik - oder wie es Michail Baryschnikow sagte, noch so ein Flüchtling des Kalten Krieges: „Es ist Petipas Vorstellung vom Leben im Jenseits, eine Welt voll Frieden, Würde, Symmetrie und Harmonie.“