Der kleine Wolf in Menschenhaut: Daniel Elias Böhm (rechts) mit Marion Jeiter und Wolfgang Fuhr. Foto: Daniela Aldinger Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Esslingen - Wolfskinder - ein alter Mythos und eine übertragene Bedeutung. Beides greift „Sams“-Autor Paul Maar in seiner Erzählung „Der weiße Wolf“ auf. Vielfach variierte, bis in die Antike zurückreichende Sagenstoffe - von König Ödipus bis zur römischen Gründungsgeschichte um Romulus und Remus - werden in Maars Handlung fortgesponnen: Einem König wird prophezeit, seine Frau werde einen Wolf als Sohn gebären. Der höchst beunruhigte Monarch gibt einem Diener den Befehl, das eigentlich ganz menschliche Neugeborene zu ertränken. Doch aus Mitleid belässt es der Diener dabei, den Kleinen im Wald auszusetzen, wo er von Wölfen aufgezogen wird. Fürderhin durchstreift der „weiße Wolf“ - Tier und Mensch zugleich - mit seinem Rudel das Land.

Selbstverständlich zielt die Story nicht nur aufs Märchenhafte, sondern auch auf die Realität jener übertragenen Bedeutung: die von ihren Eltern vernachlässigten Kinder. Und dazu gab Autobiographisches den Anstoß. Marco Süß, Leiter der Jungen WLB, der den „Weißen Wolf“ für Zuschauer ab acht Jahren an der Esslinger Landesbühne (WLB) inszeniert, erzählt von einer Vorbesprechung mit Maar. Bei der Diskussion über die die szenische Fassung habe der Autor gesagt: „Da habe ich also wieder eine Geschichte über meinen eigenen Vater geschrieben.“ Über einen Vater, der den Sohn nicht akzeptierte, ihm nichts zutraute. Aus solcher Lebenserfahrung bezieht die Erzählung, bei aller Märchen-Symbolik, ihre realistische Bedeutsamkeit.

Süß will freilich weder nur ein Fallbeispiel auf die Bühne bringen noch philologische Mythen-Assoziation betreiben: „Wir richten uns an ein junges Publikum, das zwischen Mythos, Märchen und Wirklichkeit nicht unterscheidet, auch wenn die Zuschauer natürlich ein Bewusstsein haben, wofür zum Beispiel ein König steht und was nur im Märchen wahr ist.“ Vor allem setzt der Regisseur auf die „Triggerwirkung: Man will mehr über die Geschichte erfahren.“ Und mehr und mehr soll sich dabei die zentrale Frage herauskristallisieren: Was ist eigentlich menschlich, wenn Menschen sich manchmal wie Tiere und Tiere manchmal wie Menschen verhalten? Natürlich zielt das nicht auf trockenes Debattentheater, ganz im Gegenteil: Mit der Sinnlichkeit von Tanz und Musik will das Schauspiel die große Frage nach Nutzen und Nachteil der Zivilisation dem jungen Publikum vermitteln. Die Choreografin Andrea Lucas entwickelt - ausgehend vom Spiel von Kindern - eine Körpersprache der Einfühlung „ohne Klischees à la ,Jetzt krabbeln wir mal auf allen Vieren‘“, wie sie sagt. Und Wolfgang Fuhr, der seine Musik als Teil des Darstellerquartetts live spielt, will mit seinen Klängen den Gegensatz von Kultur und Wildheit, Intellektualität und Spontaneität zum Ausdruck bringen: klassische Harmonik und notierte Ordnung hier, Betonung des Rhythmischen und Improvisation dort. Aber es geht Fuhr - wie der ganzen Inszenierung - nicht um eine bloße Gegenüberstellung, erst recht nicht um Wertung. „Zivilisation ist toll“, sagt er, „aber sie verliert immer ein Stück Natürlichkeit.“ Der weiße Wolf steht für die Berührung der Extreme - und eben auch für eine Art Wildwechsel: Manchmal ist das Wilde menschlicher als die Menschheit.

Die Premiere beginnt morgen um 16 Uhr im Podium 2 des Esslinger Schauspielhauses. Die nächsten Vorstellungen folgen am 25. März sowie am 1. und 2. April.