Mama raucht ja gar nicht. Foto: Unsplash/Maksim Istomin

Freunde und Kollegen unserer Autorin verschmähen Pizza wegen des Weißmehls, aber stecken sich hinter den Mülltonnen heimlich eine Zigarette an. Die Kinder und der Ehemann sollen es nicht erfahren. Warum?

Cannabis ist in Deutschland legal geworden, und man könnte polemisch fragen, was das soll, denn die meisten rauchen doch selbst normale Zigaretten nur noch heimlich. Eine Freundin hat das Rauchen schon mehrmals aufgegeben. Am Ende des Studiums. Dann noch einmal mit Beginn der Schwangerschaft. Ihr Mann raucht auch nicht mehr. Dass sie wieder angefangen hat, würde sie so nicht sagen. Seit mehr als einem Jahr schnorrt sie sich durch die Zigarettenschachteln ihrer Freunde wie ein Mäuschen durch den Käse. „Zu Hause rauche ich nicht“, sagt sie. Der Ehemann weiß angeblich gar nichts vom aktuellen Zigarettenkonsum der Freundin – „und das soll auch so bleiben“.

Eine Kollegin schrubbt kurz vor Dienstschluss waschweiberhaft ihre Hände. Was sie da tue, will man wissen. Nun ja, man habe eben noch am Balkon mit den anderen geraucht. Zu Hause allerdings sei ihr zehnjähriger Sohn so spitzfindig, dass sie sich kürzlich nur mühsam habe herausreden können, als er feststellte, sie stinke nach Rauch. Einem anderen Kollegen ist es seit 30 Jahren gelungen, vor seinen mittlerweile greisen Eltern zu verheimlichen, dass er raucht. Ist er bei diesen zu Besuch oder findet ein Familienfest statt, wird scheinbar mühelos stunden- oder tagelang so getan, als habe man noch nie etwas mit Zigaretten oder anderen Lastern am Hut gehabt. Ein braver Sohn.

Wer als Mutter raucht, hat das Jugendamt schon mit einem Fuß in der Tür

Rauchen hat bekanntlich einen erheblichen Imageschaden erlitten, es gilt auch längst nicht mehr als cool, sondern als besonders idiotisch, denn jeder weiß um seine gesundheitsschädliche Wirkung. In Frankreich, dem Land der Gauloises Blondes, sehen rauchende Frauen wie Sophie Marceau aber nach wie vor unfassbar sexy aus: Abends einen Joint im Mund (im Film „Ein Augenblick Liebe“), zugleich mit spielerischer Leichtigkeit Mutter von schulpflichtigen Kindern, die Straßen von Paris in hochhackigen Lederstiefeln durchschreitend. In deutschen Städten rückt man als Mutter mit Zigarette nah an eine graue Fußgängerzonenwelt, in der Frauen mit aschfahlem Teint und Kippe in der Hand Kinderwagen über den Asphalt schuckeln und die Rotzbengel anbrüllen. Wer als Mutter raucht, hat gefühlt das Jugendamt schon mit einem Fuß in der Tür und wahrscheinlich unten im Netz des Kinderwagens noch einen Asbach Uralt drin.

So wollen die Bekannten und Freundinnen natürlich nicht wirken, wenn sie heimlich rauchen. Im Kinderwagennetz haben sie Gemüsesticks und Nüsse. Pizza würden sie seit der Lektüre von Bas Kasts „Ernährungskompass“ nie im Leben essen – das Weißmehl und der Zucker. Und auf die 10 000 Schritte Bewegung achten sie fast jeden Tag.

Rauchen als Methode der Rebellion in bildungsbürgerlichen Kreisen

Zigaretten galten in einem protestantisch-bildungsbürgerlichen Umfeld immer schon als proletarisch und verdammenswert. Die Historikerin Hedwig Richter, die auf X (Twitter) viele Follower hat, schrieb kürzlich, sie rauche erst, seit sie Ende 30 sei, verstehe es als Akt der Rebellion. In einem Interview mit der „FAZ“ erzählte sie, dass in ihrem süddeutschen protestantischen Elternhaus Rauchen verpönt und schon gar nichts für Frauen gewesen sei.

Was als proletarisches Verhalten gilt, wird in bildungsbürgerlichen Kreisen gerne als Methode der Rebellion eingesetzt. Richter begreift das Rauchen heute als „souveränen Akt“, sagt sie, es sei emanzipatorisch: „Rauch strömt aus, greift Raum – und Frauen sind tendenziell eben nicht raumgreifend.“ Die setzten sich eher in die zweite Reihe, während Männer ihr Revier markierten, indem sie die Aktentasche erst mal mitten auf den Tisch knallten.

So betrachtet wäre das Rauchen natürlich nach wie vor cool. Doch nimmt die Heimlichkeit ihm nicht etwas? Sobald sich die ansonsten so gesundheitsbewussten Heimlichraucher nach ihrem Exzess mit Duftwolken einsprühen, die Hände schrubben, sind sie wohl nicht mehr lässig wie die Französinnen, sondern mehr wie eine 15-jährige Jugendliche, die sich heimlich an der Halfpipe zum Kiffen trifft und dann abends durch einen epischen Lachanfall am Esstisch auffällt.

Die Zigarette steht zugleich für Freiheit und für das Gegenteil davon

Der Raucher wirkt auf Nichtraucher heute wie ein bemitleidenswerter, der Sucht verfallener Mensch. Wer süchtig ist, ist unfrei. Ein zutiefst dem Zeitgeist widerstrebender Zustand, wollen doch alle selbst gestalten und sich als wirksam erleben. Da zeigt sich die ambivalente Rolle der Zigarette, sie kann gleichermaßen Ausdruck der Freiheit sein, in dem Sinne, in dem die Werbebranche und zahllose Marlboro-Cowboys sie von Anfang an inszeniert hatten, und eben auch als das genaue Gegenteil, als Sinnbild für die Abhängigkeit der Schwachen nämlich.

Wohl aus diesem Grund betonen heimliche Raucher gerne, im Familienurlaub habe man wieder zwei Wochen lang gar nicht geraucht, null Problemo. Das habe einem gar nicht gefehlt, nie habe man auch nur daran gedacht. Im Alltag, nun, da wolle man es aber doch nicht aufgeben.

Die meisten Arbeitenden würden heute wahrscheinlich angeben, wenig Zeit für Fluchten im größeren Stil zu haben. Also für Liebesaffären etwa. Doch Geheimnisse verschaffen Räume der Autonomie. Etwas, worauf andere keinen Zugriff haben, was nur einem selbst gehört. „Rauchen lässt sich nicht entbehren, wenn man nichts zum Küssen hat“, schrieb der starke Raucher und Psychoanalytiker Sigmund Freud einst an seine Verlobte. Im Alltag denkt die Mutter an die Vesperbrote, Kindergeburtstage und Arzttermine aller. Die gemeinsamen Kalender sind für die gesamte Familie übersichtlich in den Handys hinterlegt, und wenn es Zoff gibt, versucht sie, die Vernünftige zu sein, die besonnen reagiert und Lösungen aufzeigt.

Rauchen ist anachronistisch in einer von Verwertungslogik dominierten Welt

In der Welt der Gemüsecracker und bedürfnisorientierten Erziehung ist kein Raum für die Unvernunft der Mutter, für ihre spontane Lust auf Übertretung und Exzess. Das elterliche Individuum scheint bisweilen vollkommen überspült zu werden. Wo findet man noch etwas, das dem eigenen Vergnügen dient, eine Möglichkeit, sich selbst zu spüren oder auszudrücken? Auch die Arbeitswelt braucht maximal effiziente Mitarbeiter in gesundheitlich einwandfreiem Zustand. Ausstiegsprogramme für Raucher werden in jedem größeren Unternehmen angeboten. Vom Arbeitgeber organisierte Gesundheitswochen sollen die Arbeitskraft der Belegschaft möglichst langfristig erhalten.

Wer sich dem entzieht und demonstrativ weiter raucht, rebelliert. In einer von Optimierungs- und Verwertungslogik dominierten Welt kann er sich so ein Stück Souveränität und Autonomie erhalten. Das Rauchen ist somit heute anachronistisch, es macht nicht gesund, im Gegenteil, es dient dem reinen Genuss, der Lustbefriedigung.

Für die Heimlichraucher ist ihr kleines schmutziges Hobby auch eine Möglichkeit, der eigenen Bürgerlichkeit zumindest vorübergehend zu entkommen. Gewählt haben sie zwar die Gemüsecracker, die gemeinsam veranlagte Steuer und das unbefristete Arbeitsverhältnis. Aber tief drinnen sind sie mehr so ein James Dean, eine Lauren Bacall mit verruchter Stimme. Bevor sie dann wieder das Kind zur Leichtathletik fahren.

Ein ganz persönliches kleines Geheimnis braucht es wohl gerade jetzt

Zu Hause erzählen sie nichts von den Zigaretten, sagen Kolleginnen, weil sie „keine Lust“ hätten „zu diskutieren“. Dem Kind wolle man außerdem kein schlechtes Vorbild sein oder Sorgen bereiten („Mama, rauchen tötet“). Ein Freund meint, wenn die Frau es wüsste, würde er doch gleich wieder viel mehr rauchen. Das will er nicht. Und ein ganz persönliches kleines Geheimnis braucht es wohl gerade jetzt. Künftig muss man schließlich nicht mehr abenteuerlich in der Dämmerung zum Freund einer Freundin gehen, um ein bisschen Gras zu kaufen.

Die Familie ist Korrektiv und Netz zugleich. Wäre Mama nicht irgendwo im Hintergrund, würde das Kleinkind sich nie aufs Klettergerüst trauen. Die Bagage verschafft den sicheren Rahmen für kleine Abenteuer. Ohne die es wohl langweilig würde.