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Im Fußball werden immer Daten erfasst. Auch Tayfun Korkut stützt seine Analysen durch Zahlen. Der Trainer des VfB Stuttgart legt aber nicht nur auf einen Parameter wert.

StuttgartDie Digitalisierung des Fußballs schreitet voran. Unaufhörlich werden während einer Partie Daten erfasst. Jede Aktion, jede Bewegung, jeder Weg wird gezählt und vermessen. Der Fußball hat sich so zu einem Spiel der Zahlen entwickelt, da die Trainer nach Ablauf der 90 Minuten mit Informationen überschüttet werden und aus diesen Zahlenkolonnen ihre Schlüsse ziehen sollen. Ein Parameter kann Tayfun Korkut vor der Partie bei Hannover 96 an diesem Samstag (15.30 Uhr) jedoch nicht gefallen – die Gesamtlaufdistanz der Mannschaft. Denn der VfB liegt in dieser Kategorie auf dem letzten Platz.

Auf insgesamt 688,9 Kilometer kommen die Stuttgarter nach sechs Bundesliga-Spielen und liegen damit 40 Kilometer hinter 1899 Hoffenheim, dem Spitzenreiter mit 729,1 Kilometern. Auf durchschnittlich 121,5 Kilometer pro Begegnung bringen es die Spieler von Trainer Julian Nagelsmann, während Korkuts Team 114,8 Kilometer aufweist.

Ist der VfB also konditionsschwach oder gar lauffaul? Zweimal Nein. „Wir schauen nicht nur auf einen einzelnen Wert, sondern auf die Entwicklung insgesamt“, sagt der VfB-Coach. Dabei zeigt sich eine klare Aufwärtstendenz. Zuletzt spulten die Stuttgarter gegen Werder Bremen 119,2 Kilometer ab – ein Topwert.

Am Ende gewann der VfB, aber ein direkter Zusammenhang zwischen absoluter Laufleistung und guter Tabellenplatzierung besteht nicht. Siehe FC Bayern, der mit viel Ballbesitzzeiten lieber Kugel und Gegner laufen lässt. Ansonsten wäre Fußball auf eine einfache Formel zu reduzieren: Wer mehr läuft, gewinnt. „Dann müsste ich ja nur die laufstärksten Spieler aufstellen, und alles wäre gut“, sagt Korkut.

Zumal er in Santiago Ascacibar einen Profi hat, der mit auf die meisten Meter in der Liga kommt: 74,3 Kilometer nach 540 Spielminuten, die komplette Einsatzzeit. Nur Davy Klaassen von Werder Bremen bringt es auf 600 Meter mehr. Mit 12,94 Kilometern pro Partie erzielt zurzeit aber Jonas Hofmann knapp den höchsten Durchschnittswert. Allerdings hat der Mittelfeldspieler von Borussia Mönchengladbach bisher nur fünf Spiele absolviert – was auf ein Problem beim ersten Blick auf die Zahlen hinweist: die Vergleichbarkeit. Denn auch Christian Gentner zählt seit Jahren zu den Akteuren, die größte Distanzen zurücklegen. Aktuell taucht der VfB-Kapitän jedoch auf Rang 66 mit 59,1 Kilometern auf – mit sechs Einsätzen, aber nur 469 Spielminuten, weil er viermal ausgewechselt wurde.

Aus dem Stuttgarter Kader ist Gentner damit die Nummer drei, hinter Benjamin Pavard (47./62,3) und vor Mario Gomez (75./56,8). Diese beiden haben bisher noch keine Bundesliga-Sekunde verpasst, sind nach ihren WM-Teilnahmen im Sommer jedoch später als der Rest in die Vorbereitung eingestiegen. Was den Schluss zulässt, dass die zwei Leistungsträger zum Saisonstart physisch noch nicht in Topform sein konnten, da sie innerhalb kurzer Zeit ihren Trainingsrückstand aufholen mussten. Ebenso wie Gentner, der im Juli verletzungsbedingt kürzertreten musste.

Es gibt also Erklärungen für die Gesamtlaufleistung des VfB, und Korkut neigt ohnehin nicht zu einem akademischen Ansatz, der die Kraft der Zahlen überbewertet. „Wir verknüpfen die Werte auch immer miteinander“, sagt der Coach und macht dies an einem Beispiel fest: War die Vorgabe, über die Flügel zu spielen, dann interessiert ihn die Anzahl der Flanken. Schaut er dann auf die Flanken, geht es auch um die positionsspezifischen Anforderungen: Stimmen die Abläufe und Wege bei den Außenverteidigern, um überhaupt in die Räume zum Flanken vorzudringen?

Eine komplexe Geschichte ist der Umgang mit den Daten, und für viele Trainer hat die Anzahl der Sprints eine höhere Aussagekraft als die Gesamtlaufstrecke. Weil sie direkt mit der Spielidee in Verbindung steht. Pressing oder Vollgasfußball à la Jürgen Klopp heißt das. Den Gegner früh unter Druck setzen, den Ball im Verbund erkämpfen und schnell umschalten, um innerhalb von wenigen Sekunden im gegnerischen Strafraum aufzutauchen.

Rein statistisch erhöht das die Wahrscheinlichkeit eines Torerfolgs enorm. Im Grunde ist die Spielweise aber zunächst einmal gegen den Ball ausgerichtet, erst im zweiten Schritt wird daraus ein Angriffsmittel. Zu bestaunen gab es diese extreme Form des Pressings zuletzt beim Punktgewinn des FC Augsburg in München. 1:1 hieß es am Ende beim übermächtig erscheinenden Rekordmeister, und die Augsburger kamen auf 291 Sprints – Ligarekord. „Der Verein will diesen Fußball sehen. Das war und ist meine Aufgabenstellung“, sagt der FCA-Trainer Manuel Baum.

Korkut will sich jedoch nicht auf eine einzige Marschroute festlegen. Mehr Flexibilität will er in das Stuttgarter Spiel einbringen. Wie gegen Werder, als er dreimal die Grundordnung änderte – weil es der turbulente Verlauf erforderte. Hin und her ging es im höchsten Tempo bis zum Schluss. Das Ergebnis: ein 2:1-Sieg und 269 Sprints, ein außergewöhnlich guter Wert.