Mit schwarzem Umhang, Schlapphut, Laterne, Horn und großem Schlüsselbund wird der Historiker Olaf Schulze zum Cannstatter Nacht- und Windwächter Abraham Kärcher. Auf einem fast zweistündigen Rundgang erzählt der Letzte seines Schlags Geschichten aus der Blütezeit des Bade- und Kurorts.
Die Führung mit dem letzten Nachtwächter Cannstatts startet für die 25 Leserinnen und Leser in der König-Karl-Straße, die anno 1864 noch Königstraße heißt. Hier, ganz in der Nähe von Kursaal und Kurpark, wohnten die wohlhabenden Bürger in schönen Häusern und danebenliegenden Remisen für die Kutschen und der Kutscherwohnung obendrüber, erzählt Abraham Kärcher und deutet auf eines der herrschaftlichen Häuser. Gegenüber im ersten Stock seien „drei ältere Fräuleins, jedes eine ‚von’“ untergekommen, die sich die repräsentative Etage samt Salon und Köchin teilten, und gegenüber wohnten eine Oberamtsratswitwe und ein ehemaliger General. Auch der König Wilhelm komme oft inkognito nach Cannstatt. „Ich hab ihn mit eigenen Augen gesehen.“ Als Nachtwächter, so Kärcher, sei er auch für die Nachtruhe zuständig. „In der Altstadt gibt es 40 Weinstuben, wenn ich die alle durch habe, läuft es sich leicht.“ Auch jetzt schreitet er flott voran und hat an fast jeder Ecke was zu erzählen. Abraham Kärcher berichtet von Sturzbädern im Neckar – „Da gibt es einen jungen Geistlichen in Bayern, Kneipp oder so, der sagt, das sei gut“ – und von der berühmten Tabakfabrik Stern in der Liebenzeller Straße, in der Zigarren wie auf Kuba gemacht werden.
Verrückte Treppen
Oder vom Selbstmord der Turmwächterfrau, die durch das Leben 200 Stufen über der Erde verrückt wurde. „Beim ersten Versuch hat sie rostige Nägel gegessen, sich dann mit einem rostigen Messer verletzt, und beim dritten Mal hat sie sich aufgehängt.“ An der Volksschule in der Spreuergasse vorbei führt der Nachtwächter die Gruppe zum Jakobsbrunnen, einer von vielen Brunnen, die in den 1830er-Jahren in Cannstatt gebaut wurden. „Alle wollten Reibach mit dem Mineralwasser machen.“ Eine richtige Sensation sei aber das Schwimmbad mit Mineralwasser bei dem Arzt Heine, berichtet Kärcher. „Da erzeugen Helfer mit einer Schraube Wellenschlag, weil es heißt, dass Heilwasser noch heilsamer ist, wenn es bewegt wird.“
Warum sind die Gassen krumm?
Als es auf 21 Uhr zugeht, wird Abraham Kärcher nervös. „Ich darf die volle Stunde nicht verpassen, und die Cannstatter Zeit ist immer eine Minute vor Stuttgart.“ Noch bleibt aber genügend Zeit, um den Zuhörenden zu erzählen, warum die Gassen in der Altstadt krumm und zueinander versetzt sind. „Sie sind so gebaut worden, weil es den Wind aufhält, unsere Vorfahren waren nämlich klug.“ Auch auf die Erkerhäuser weist Abraham Kärcher hin. „Die waren ausschließlich für Patrizier, davon gab es nur 15 Stück in der Altstadt, und die Besitzer mussten eine Erkersteuer zahlen.“ Pünktlich zum Glockenschlag steht der Nachtwächter mit seiner Entourage in der Heimschen Gasse vor dem Haus mit der Nummer 2 und erledigt seine Pflicht: „Hört ihr Leut und lasst euch sagen, die Glock am Turm hat Neun geschlagen...“
Schaurige Geschichten
Dann erzählt er von den dunklen Gestalten, die hier anno 1846 die Schusterwitwe Haag ermordet haben. „Sie war so geizig, dass sie nicht in ihrem eigenen Bett geschlafen hat, um die Matratze zu schonen, und es wurde gemunkelt, dass sie viele Gulden hat.“ Das habe einen bösen Mann namens Maute aus Stuttgart und einen Cannstatter in Not, der Schaft hieß, zum Bruch verleidet. „Die Witwe wachte auf, der Maute hielt sie fest und plötzlich war sie tot, wahrscheinlich vor Aufregung.“ 300 Gulden hätten die beiden Männer erbeutet, die bald schon gefasst und im März 1948 auf dem Cannstatter Wasen mit dem Schwert hingerichtet wurden. „Was die nicht wussten, die Witwe Haag hatte 4000 Gulden im Haus versteckt, da haben sich natürlich ihre Hinterbliebenen gefreut.“ Der Nacht- und Windwächter kennt viele Geschichten, auch die von der „dicken Magd“ der Metzgerei Cantz, die aus Angst vor ihrem Vater ihre Schwangerschaft verschwieg. Nachdem sie das Kind heimlich als Sturzgeburt auf dem Abtritt bekommen habe, habe sie es mit einer Heugabel erstochen und unter ihrem Bett versteckt. 1845 sei das gewesen, sagt Kärcher. „Sie ist für elf Jahre ins Gefängnis gekommen, es war einer der letzten Kindsmorde in Cannstatt.“ Von der Explosion im Lagerhaus anno 1862 erzählt er auch. „Einem hat es die Hand weggerissen, ein andere war danach blind.“
Jetzt sei vor wenigen Tagen, am 25. Juni 1864, der König Wilhelm im Alter von 83 Jahren im Schloss Rosenstein gestorben, so Kärcher. Mit einer zwölfspännigen Kutsche und Fackelträgern sei der Sarg durch Cannstatt gezogen, bevor sie ihn zur Schlosskapelle auf dem Rotenberg brachten. „Alles war still, nur um 3 Uhr nachts gab es einen Kanonenschuss. Da wussten wir, der König ist in der Gruft.“ Eva Herschmann