
Die wunderbare Aussicht hoch über Rohracker reicht vom Fernsehturm über den beschaulichen Ort unten im Tal bis Hedelfingen und ins Neckartal hinein. Der Weg hinauf durch die Weinberge und Steillagen bringt den Kreislauf in Schwung, der Weg hinab ist durch die vielfältigen aussichtsreichen Entdeckungen kurzweilig. Und die Stände unterwegs laden zu genussvollen Pausen ein. Am 11. Mai, dem Muttertag, ist Weinwandertag in Hedelfingen, dieses Jahr ist wieder die Rohracker Wanderschleife an der Reihe. Dabei wird die Weingärtnergenossenschaft Rohracker zum ersten Mal auch ihren ganz neuen Souvignier gris ausschenken. Mit diesem neuen Steilwerk-Genuss werden die, wenn das Wetter mitspielt - wieder um die 2000 Besucherinnen und Besucher auch schon mitten in den aktuellen Diskussionen um Wein und Weinbau sein.
Dem Weinbau geht es nicht gut. Das ist nicht nur in der Region Stuttgart oder im Anbaugebiet Württemberg so, sondern in ganz Deutschland, in ganz Europa. Die Gründe für die Krisensituation sind vielfältig. Die Corona-Pandemie hat gerade auch die Weinwirtschaft hart getroffen, erholt haben sich die Weinverkäufe von dem tiefen Einschnitt nie, auch nicht in einem Vorzeigegebiet wie Bordeaux im Nachbarland Frankreich. Schon zuvor hatte das intensivere Gesundheitsbewusstsein zu einem veränderten Konsumverhalten geführt. Es wurde immer weniger Wein getrunken, alkoholarme oder -freie Weine sind zum Thema geworden, was vor in paar Jahren noch undenkbar war.

Das Nachfolgeproblem ist in vielen Bereichen der Wirtschaft ein großes Thema, auch die Weingärtner trifft es. Immer weniger Menschen sind bereit, die harte Arbeit vor allem auch in Steillagen auf sich zu nehmen oder das wirtschaftliche Risiko in immer unsicherer erscheinenden Zeiten einzugehen. Da auch die Übernahmekapazitäten von größeren Betrieben begrenzt sind, fallen immer mehr Flächen brach. Das wiederum verändert die Kulturlandschaft und ist in so bekannten Anbaugebieten wie an der Mosel, in Franken oder auch im Remstal immer öfter zu beobachten.
Der Klimawandel ist ein weiterer Krisenfaktor. Alteingeführte traditionelle Rebsorten vertragen die höheren Temperaturen und die höhere Luftfeuchtigkeit nur bedingt, was den Ertrag reduziert. Die Rebstöcke treiben inzwischen Wochen früher aus als noch vor zwei, drei Jahrzehnten. Dadurch steigt die Gefahr, dass Fröste im Frühjahr zu erheblichen Ausfällen führen. In wärmerer, feuchterer Luft steigt auch das Risiko von Pilzkrankheiten. Um wirksam etwas dagegen zu unternehmen, wäre ein verstärkter Einsatz von Pflanzenschutz nötig. Das wiederum erhöht gerade in terrassierten Steillagen wie in Rohracker oder im Neckartal den Arbeitsaufwand erheblich. Und ist in Landschaftsschutzgebieten - das sind die meisten Weinlagen ohnehin nur bedingt möglich.
Deswegen freut sich Markus Wegst, der Vorsitzende der Rohracker Weingärtner, beim Weinwandertag ganz besonders auf den Souvignier gris. Das ist eine der sogenannten PIWI-Rebsorten, wobei PIWI für „pilzwiderstandsfähig“ steht. Die Weißweinsorte wurde 1983 am Staatlichen Weinbauinstitut Freiburg aus den Sorten Seyval Blanc und Zähringer gezüchtet. In den vergangenen Jahren wurde sie auf immer größeren Flächen in Deutschland angebaut, auch in Württemberg ist sie inzwischen sehr beliebt. Entsprechend hat jetzt auch beim Steilwerk, wie sich die Rohracker Genossenschaft nennt, das PIWI-Zeitalter begonnen.
Auch die anderen oben erwähnten Herausforderungen treffen die Rohracker Wengerter, erzählt Markus Wegst. Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied zu den großen Genossenschaften oder Weingütern andernorts: Die Rohracker Wengerter verdienen mit dem Weinbau nicht ihren Lebensunterhalt, sondern haben einen Hauptberuf und pflegen ihre Freiflächen als Hobby, aus Enthusiasmus heraus, aus Interesse und auch, um das besondere Landschaftsbild zu bewahren, Heimatpflege im besten Sinn des Wortes also. Deswegen werden hier keine Rebflächen wegen fehlender Rentabilität aufgegeben. Geld damit zu verdienen spielt also nicht die Hauptrolle beim Ackern in der Steillage - auch eine Seltenheit heutzutage.
„Steilwerk“ - so nennen sie sich
Ein Nachfolgeproblem hat die kleinste Winzergenossenschaft in Württemberg bis jetzt auch nicht. 24 Steilwerk-Winzerinnen und -Winzer bewirtschaften die rund vier Hektar Weinbergterrassen in Steillage. „Steilwerk steht für extrem steile Weinberge und Jahrhunderte altes Handwerk zur Bewirtschaftung und zum Erhalt der Terrassenweinberg in Stuttgart-Rohracker“, heißt es auf der Webseite der Genossenschaft. “Zu Fuß, bergauf und bergab durch die Weinbergterrassen tragen die Steilwerker:innen alle Gerätschaften zur Bewirtschaftung und im Herbst die Butten mit den gelesenen Trauben.“ Das Interesse und den Spaß daran vermittelt die Genossenschaft schon seit 2016 alle zwei Jahre in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule Stuttgart in einem über das ganze Weinjahr laufenden Weinbaukurs. In rund zehn Veranstaltungen erklärt und zeigt unter anderem Markus Wegst, was alles zu einem erfolgreichen Weinanbau gehört. Allein elf der aktuellen Mitglieder der Genossenschaft wurden laut Wegst in den vergangenen Jahren über diesen Kurs gewonnen.
Wer sich für all das interessiert oder auch einfach nur die besondere Landschaft samt zugehörigen Weinen genießen will, hat beim Weinwandertag am 11. Mai ausführlich Gelegenheit dazu. Startpunkt ist wie immer ab 11 Uhr am Emma-Reichle-Heim. Das Heim ist mit der Buslinie 62, Haltestelle Dürrbachstraße, zu erreichen. Der Weg führt hinauf zum Frauenkopf und von dort wieder hinunter nach Rohracker zur Kelter, wo die Buslinie 62 ebenfalls hält. Unterwegs können an sechs Ständen Weine aus Rohracker und Hedelfingen probiert werden, Wasser gibt es natürlich auch, ebenfalls Stärkungen aller Art.
Weitere Informationen sind zu finden unter https://www.steilwerk.de/