Radfahren will gelernt sein – nur wo? Foto: Lichtgut/Max Kovalenko - Lichtgut/Max Kovalenko

In Stuttgart können immer mehr Kinder nur schlecht oder gar nicht Radfahren. Zu viel Autoverkehr, schmale Radschutzstreifen und steile, zugestellte Gehwege erschweren das Lernen.

StuttgartEr selbst hat zwar noch keine Kinder, aber Thijs Lucas kennt sie gut, die Sorgen der Eltern, die ihre Kinder mit dem Fahrrad auf die Stuttgarter Straßen lassen wollen. Er weiß von der Mutter, deren Kinder bereits älter sind als zehn Jahre, die aber dennoch Angst hat, sie zur Schule fahren zu lassen – und sich insgeheim freut, wenn sie die Bahn nehmen. Er kennt aber auch Eltern, die ihr Kind in Stuttgart gar nicht alleine aufs Rad lassen. „Und was soll ich sagen: Das kann ich ihnen nicht verübeln“, so Lucas. Lucas selbst ist passionierter Radfahrer. Er hat zusammen mit einem Team das Bürgerbegehren Radentscheid ins Rollen gebracht. Bei der Unterschriftensammlung sei ihm aufgefallen, wie bewusst Kindern das Problem sei, dass Stuttgart nicht für Fahrradfahrer gerüstet sei – vor allem nicht für Kinder. Darum hat er die Kidical Mass ins Leben gerufen, zum einen, um das Thema in die Öffentlichkeit zu rücken, aber auch, damit Kinder einmal im Monat normal und ohne Angst Radfahren können.

Das ist sonst in Stuttgart für Kinder nicht möglich. Der Grund: „Kinder werden in Stuttgart in der Radverkehrsplanung nicht mitgedacht“, sagt Lucas. Weder die bis Achtjährigen, die – auch in Begleitung eines Erwachsenen – auf dem Gehweg fahren müssen, noch die älteren Kinder (bis zehn Jahre dürfen sie auf dem Gehweg fahren, danach müssen sie auf die Straße). Denn in Stuttgart seien die Gehwege mit 1,50 Metern Breite zu schmal – und zudem seien sie auch noch oft zugeparkt, besonders an den Kreuzungen. Dazu passt, dass die von der Polizei stichprobenartig erhobene Hauptursache der Unfälle, für die fahrradfahrende Kinder im Alter von null bis 14 verantwortlich sind, ist, dass die Kinder „einfach auf die Fahrbahn fahren“ – etwa von einem Gehweg aus. Von 2014 bis 2018 hatte in Stuttgart 151 Kinder mit dem Fahrrad einen Unfall, schuld waren sie in 63 Fällen, so die Polizeisprecherin Monika Ackermann.

Kinder wackeln stark hin und her

Die Radschutzstreifen verbessern die Lage laut Lucas nicht. Auf den schmalen Streifen könne man Kinder nicht fahren lassen, auch nicht Elf- oder Zwölfjährige: Kinder wackeln laut Lucas zu sehr beim Fahren, zudem seien sie auf dem schmalen Streifen immer der Gefahr ausgesetzt, dass ein parkender Autofahrer die Autotür öffnet. Die Konsequenz sei, dass auch ältere Kinder auf dem Fußweg fahren. „Aber da ist der nächste Konflikt programmiert: der mit den Fußgängern“, sagt Lucas.

Hermann Volkert vom Referat Prävention und Verkehrserziehung beim Polizeipräsidium Stuttgart bestätigt, dass sich „in der letzten Zeit die Beschwerden von Fußgängern häufen“, weil viele verschiedene Verkehrsteilnehmer auf der gleichen Verkehrsfläche unterwegs seien. Umso wichtiger ist es ihm, dass sein Referat zusammen mit den Grundschulen die Viertklässler fit für den Straßenverkehr macht: Die Kinder werden mit Arbeitsheften und vier Besuchen bei der Jugendverkehrsschule auf die Fahrradprüfung vorbereitet. Volkert und seine Kollegen stellen fest, dass es immer mehr Kinder gibt, die nicht gut oder gar nicht Radfahren können. Zum einen bewegten sich Kinder generell weniger, zum anderen sei es in Teilen der Innenstadt schwierig, mit dem Kind Fahrradfahren zu lernen oder zu üben. Dennoch sieht er die Eltern in der Pflicht: „Wer mit seinem Kind Fahrradfahren möchte, findet Möglichkeiten in Stuttgart“. Problematisch sei es, wenn die Eltern selbst nicht Radfahren – und auch das Kind kein Rad besitze. Deshalb bietet das Referat Prävention Vorbereitungsklassen für angehende Viertklässler in den Sommerferien. Anmelden kann man sich über das Sommerferienprogramm der Stadt, es gibt noch einige freie Plätze.

Parkscheinautomaten im Weg

Gudrun Zühlke, die Landesvorsitzende des ADFC, beobachtet diese Entwicklung mit Sorge. Der ADFC fordere deshalb eine „sichere Infrastruktur für 8- bis 88-Jährige“, so Zühlke. Die Voraussetzung dafür sei eine „sichere, breite, selbsterklärende und durchgehende Verkehrsführung für Radfahrer“. Zühlke: „Aber Stuttgart hat noch gar nicht richtig angefangen“. Auch Peter Pipiorke von der BUND-Radgruppe hält „sichere durchgehende Radwege für das A und O“ – doch bis das so sei, müsse man Kindern beibringen, wie sie mit der Unbill umgehen, statt ihnen das Fahrradfahren zu verbieten .

Thijs Lucas fordert mit dem Radentscheid ebenfalls Radverkehrsanlagen, die vom Fuß- und Kraftfahrzeugverkehr baulich getrennt sind. Doch bis es die gibt, könnten Kindern „Fahrradstraßen in allen Quartieren“ helfen – die ließen sich schneller realisieren. „Bisher ist die Tübinger Straße der einzige Ort, der vom Standard her so ist, dass er fahrradfreundlich ist“, sagt Lucas. Dass es noch besser gehe, zeige sich an der Burgstallstraße, wo zusätzlich zur Eberhard- und Tübinger Straße derzeit die dritte Fahrradstraße entsteht. „Dort werden die Fußwege über die Bordsteine fortgesetzt, und sie verlaufen parallel zum Radweg, das ist für Kids wichtig.“ Zudem plädiert er dafür, mehr Platz auf den Fußwegen schaffen, um Konflikte mit Fußgängern zu vermeiden. So könne man etwa die Parkscheinautomaten vom Gehweg auf die Straße versetzen. Klar sei, dass dann Parkplätze wegfallen. „Wir müssen entscheiden, was uns wichtiger ist“, sagt Lucas.