Bauchschmerzen vor lauter Grusel (von links): Marie (Emilia de Fries), Maman (Natalie Forester) und François (Alexander Redwitz). Foto: Alex Wunsch Quelle: Unbekannt

Von Petra Bail

Stuttgart - Diese Gutenachtgeschichte ist garantiert nicht zum Einschlafen. Die jagt Angst ein. Zumindest Kindern wie François. Er ist Maries kleiner Bruder und fürchtet sich schon mal, wenn Maman abends im Café kocht, sobald die Kinder im Bett sind. Normalerweise klappt das prima. Doch an diesem Abend fehlt der Mond, der stets ein wachsames Auge auf die schlafenden Geschwister hat und François ist auch gar nicht müde. Ideales Terrain für Monster, Hexen und Konsorten. Mike Kennys preisgekrönte Gruselgeschichte, „Nachtgeknister“ für Kinder ab sechs Jahren hatte jetzt am Jungen Ensemble Stuttgart Premiere - zum Fürchten schön und zum Totlachen komisch. Geweint hat keiner der jungen Zuschauer.

Sehr einfühlsam, aber mit ordentlich Brimborium hat Paulina Neukampf diese lustvoll verschachtelte Symbiose aus Märchen, Realität und Fiktion auf die Bühne gebracht. Den schmalen Grat zwischen Horrorvisionen und bloßer Märchenadaption loten die drei Schauspieler elegant aus. Natalie Forester, die sich im Lauf der Geschichte von der fürsorglichen Mutter zum kinderfressenden Dibbuk wandelt, kommt dabei die anspruchsvollste Rolle zu. Wie sie im nebelumwaberten Suppenkessel mit einem Reisigbesen rührt und dabei röchelt, keift und faucht, ist großartig. Emilia de Fries ist die gewitzte Marie, die über so viel Fantasie verfügt, dass diese spektakuläre Metamorphose für ihren Bruder und für sie selbst möglich wird. Alexander Redwitz glaubt das alles. Er spielt den kleinen François offenherzig, der zur diebischen Freude seiner großen Schwester herrlich leicht zu ängstigen ist.

Horrorfilm fürs Kopfkino

Denn um die Angst und die Bewältigung geht es in dem Stück. Angst kennt jeder. Nach einem gruseligen Film oder nach einem Kirmesbesuch. Aber Marie zeigt, wie man die hausgemachten Dämonen lässig lenkt und glorreich besiegt. Die beiden haben mit Maman den Jahrmarkt besucht. Dafür werden sehr effektvoll zwei deckenhohe Glitzervorhänge über die Bühne gezogen (Ausstattung: Julia Katharina Berndt) und wummernde Beats durch den Raum gejagt (Musik: Sarah de Castro). Geisterbahn, unheimliche Clowns, die Geräusche, das Schreien und die Lichter wirken bedrohlich und eignen sich wunderbar, um daraus einen fantastischen Horrorfilm fürs Kopfkino zu stricken. Zumal am Abend dieses ereignisreichen Tags das familiäre Hygieneritual seltsamerweise abgekürzt werden muss. Maman ist spät dran für ihren Job, die herrlich-rhythmische Synchron-Performance mit Zähneputzen und Gesichtwaschen wird abgekürzt, das schräg geträllerte Gutenachtlied entfällt. Die Kinder zicken, die Mutter ist genervt. Man kennt das.

Als sie weg ist, drücken Fragen. Hat Maman nicht gesagt, die Kirmes-Clowns klauen kleine Kinder, weil sie sie essen? „Besonders Jungs“, ergänzt Marie, „weil die am besten schmecken.“ Imagination und Wirklichkeit werden jetzt so elegant verwoben, dass auch der Zuschauer vergnügt im Labyrinth der Geschichten in der Geschichte verloren geht. Man folgt begeistert Maries überbordendem Fabuliertalent, die damit im ganz normalen Geschwisterkrieg ihren Bruder piesackt. Ist Maman die kindermästende Menschenfresserin? Will sie heute im Café nicht „Kinderbraten“ kochen? Hat sie nicht beim Frühstück gesagt, dass sie ihn so süß findet, dass sie ihn aufessen könnte und die Kinder daran erinnert, dass sie nicht wachsen, wenn sie nicht essen? Hänsel und Gretel lassen grüßen.

Da knotet sich eine geballte Ladung Angst im Bauch, die übermächtig werden könnte. Doch Paulina Neukampf bricht die Hexen-Bilder mit witzigen Einsprengseln, über die befreiend gelacht werden darf. Genau wie die Kirmesvorhänge ist auch das Stück selbst sehr transparent. Die Realität blitzt immer wieder durch und nimmt die Furcht, etwa, wenn Marie erzählt, dass es gar nicht so einfach ist, sich mitten am Tag die Nacht vorzustellen. Denn richtige Gruselgeschichten funktionieren nur im Dunkeln, wenn der Mond fehlt.

Seltsame Blicke

Am Ende hat auch der kleine François gelernt, die Geister nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Gemeinsam mit seiner Schwester bringt er die Geschichte zum glücklichen Ende. Bleibt nur noch die Frage: „Was kochen wir heute?“ Aber warum nur schauen die Schauspieler dabei die Zuschauer so seltsam an?

Weitere Aufführungen: 13. Bis 15. November, jeweils 11 Uhr, 27. und 29. Dezember, jeweils 15 Uhr. Tel. 0711 / 218 480 18.