28. Juli 1987: Die Polizei sucht im Mordfall Anja Aichele auf den Feldern bei Cannstatt nach Spuren. Fotos: Archiv Quelle: Unbekannt

Von Christine Luz

Stuttgart - Wie gefährlich sein Job sein kann, erkannte Rainer Jetter, als er am 8. August 1989 zu einem Tatort an der Gaisburger Brücke gerufen wurde. Ein abgelehnter Asylbewerber hatte sich gegen seine Festnahme gewehrt, mit einem Bajonett um sich gestochen und dabei zwei Polizisten getötet. Jetter sah einen weiteren Beamten schwer verletzt am Boden liegen. „Das überlebt der nicht“, dachte er. Heute sind sie noch immer Kollegen.

Jetter ist seit 42 Jahren im Dienst. Der Kriminalhauptkommissar arbeitete an fast allen großen Mordermittlungen im Raum Stuttgart mit. Er beschäftigte sich mit dem Mord an der Schülerin Anja Aichele 1987 und ermittelte auch zu den zwei im Koffer verstauten Leichen, die Spaziergänger 2014 im Schlossgarten gefunden hatten. Wer den hochgewachsenen Mann in seinem Büro im Stuttgarter Polizeipräsidium trifft, dem fällt es schwer zu glauben, dass Jetter bereits 64 ist und seit vier Jahren in Pension sein könnte - wenn er gewollt hätte. Er arbeitet freiwillig weiter. Unter dem Schreibtisch schauen seine froschgrünen Schuhe hervor.

Um 560 Leichen hat er sich allein im vergangenen Jahr gekümmert. Das meiste waren allerdings keine Morde, wie er betont. Er wird auch bei Suiziden gerufen oder wenn Ärzte eine ungeklärte Todesursache bescheinigen. „Die Mehrheit unserer Arbeit ist Teamarbeit“, sagt er, die Ärmel des gestreiften Hemdes hat er hochgekrempelt.

Von der Bank zum Tatort

Gelernt hat Jetter zunächst Bankkaufmann. Seine Kollegen dort hielten ihn für verrückt, als er zur Polizei wechselte. Doch er fühlte sich dort sofort an der richtigen Stelle. „Mein Alltag ist spannender als der Tatort sonntagabends.“ Er räumt ein, dass man in seinem Job keine Angst vor der nächsten Leiche haben darf. „Ich weiß, wie zerbrechlich das Leben ist, weil ich es jeden Tag erlebe“, sagt er. Er habe immer versucht im Jetzt zu leben. Ihm gelingt es meistens, eine gesunde Distanz zu wahren: Er liegt nach einem Einsatz selten nachts wach, überlegte sich morgens nicht, ob er abends wieder heil nach Hause kommt. In mehr als 40 Jahren wurde nie auf ihn geschossen, und auch er musste nie einen Schuss auf jemanden abfeuern.

Seit er 55 wurde, übernimmt er keine Wochenendbereitschaft mehr, bei der ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Kollege zu einem Tatort rufen konnte. Viel Schlaf habe man in diesen Phasen nie bekommen, sagt er. Auch sonst folgt sein Arbeitstag keinen festen Regeln. „Wir können ja nicht planen, dass wir heute drei Leichen auf dem Tisch haben.“ Es gab Jahre, in denen er 400 Überstunden anhäufte.

Mit 60 in den verdienten Ruhestand zu gehen, war für ihn trotzdem keine Option. „Ich habe weitergemacht, weil mir das Geschäft Spaß macht.“ Ein ums andere Jahr verlängerte er seinen Dienst. Nächstes Jahr, mit 65, muss er seinen Schreibtisch allerdings räumen. Länger darf er in Baden-Württemberg als Polizeibeamter nicht arbeiten.

Gehaltszuschlag statt Ruhestand

Eine Regelung, die der Landeschef der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Ralf Kusterer, grundsätzlich für sinnvoll hält. Denn: „Sie dient dem Schutz und dem Erhalt der Gesundheit und soll das Leben nach der Arbeitsphase sichern.“

Innenminister Thomas Strobl (CDU) warb erst im April wieder dafür, dass Polizeibeamte im Alter freiwillig länger arbeiten. Die Verlängerung ist eine Möglichkeit, um die Polizeidichte zu erhöhen - in den nächsten Jahren steht eine Pensionierungswelle an. Zudem sieht der Minister einen weiteren Vorteil: „Ältere Kollegen mit einem großen Erfahrungsschatz sind gerade für junge Polizisten in der Ausbildung besonders wertvoll.“ Schon 2016 hatten rund 390 Beamte das Angebot der freiwilligen Verlängerung angenommen. Im ersten Halbjahr 2017 sind es bereits über 450. Um den Beamten das Aufschieben des Ruhestandes schmackhaft zu machen, erhalten sie einen Gehaltszuschlag von zehn Prozent. Doch Jetter sagt: „Nur wegen Geld hätte ich keine vier Jahre drangehängt.“ Für ihn war entscheidend, dass er gerne arbeitet und ein tolles Team hat.

Mittlerweile hat er sich an den Gedanken gewöhnt, dass im nächsten Jahr Schluss ist, er schmiedet bereits Pläne für den Ruhestand. Momentan wird er aber noch anderswo gebraucht. Sein Diensthandy klingelt. Ein Toter auf einem Bahngleis. Jetter muss los.