Eine Fotofarblithografie von Stuttgart nach Merian im Jahr 1634 Foto: Stadtmessungsamt Stuttgart - Stadtmessungsamt Stuttgart

Wie alt ist Stuttgart eigentlich? Und gibt es im kommenden Jahr ein Jubiläum zu feiern? Wer bei Wikipedia nachschaut, könnte auf diese Idee kommen. Doch ein Historiker widerspricht.

StuttgartDie Sache mit der Schwarmintelligenz ist bisweilen gefährlicher, als sie auf den ersten Blick scheint. Wer zum Beispiel das Internetlexikon Wikipedia aufruft, um in der dort vermerkten Historie der Stadt Stuttgart zu schmökern, stößt unter der Rubrik Geschichte auf die Zwischenüberschrift Erhebung zur Stadt 1219. Stuttgart sei, so heißt es bei Wikipedia, „vermutlich während der Ungarneinfälle zwischen 926 und 948 im Nesenbachtal fünf Kilometer südwestlich der Altenburg als Gestüt (Stuotengarten) gegründet“ worden. Später sei die Siedlung nahe dem Gestüt in den Besitz der Markgrafen von Baden gelangt, „und Hermann V. von Baden erhob den Ort 1219 zur Stadt“. Wer sich nun wundert, warum die mitunter geschichtsvergessene Landeshauptstadt sogar ihr 800-Jahr-Jubiläum anno 2019 verschläft, dem sei eine Nachfrage bei Roland Müller empfohlen. Der Historiker leitet das in Bad Cannstatt ansässige Stadtarchiv und ist damit so etwas wie Stuttgarts oberster Geschichtswächter. „Stuttgart ist keine Gründungsstadt wie zum Beispiel Ludwigsburg; es gibt kein Gründungsdatum“, sagt Müller. Zwar nehme die Forschung „eine Stadtwerdung in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts an“. Es existiere jedoch keine einschlägige Urkunde. Es sei aber Usus, dass dann das erste urkundlich gesicherte Datum als Jubiläumsdatum gilt – im Bewusstsein der Zufälle bei der Überlieferung schriftlicher Dokumente. Nach einer Urkunde Papst Gregors IX. für das Kloster Bebenhausen sei dieses Datum für Stuttgart der 8. März 1229. „Die Vorstellung, es habe in Stuttgart 1219 eine förmliche Stadterhebung gegeben, geht auf Überlegungen des früheren Tübinger Landeshistorikers Hansmartin Decker-Hauff in seiner ,Geschichte der Stadt Stuttgart‘ zurück“, sagt Roland Müller. Darauf, so der Stadtarchivdirektor, „dürfte auch der Wikipedia-Artikel zurückzuführen sein“. Die Forschung sei Decker-Hauffs These in diesem Fall aber nicht gefolgt. Der Historiker Oliver Auge habe sie 2004 bei der 775-Jahr-Feier der Stadt gar als unwahrscheinlich und nicht belegbar bezeichnet.

Immerhin einen Autor, der sich vor einigen Monaten an einen hübschen Band zum Stuttgarter 800-Jahr-Jubiläum machen wollte, um im Januar 2019 der Erste auf dem Markt zu sein, konnte Roland Müller davon abhalten, viel Arbeit in ein Werk zu stecken, dessen Exklusivität auf einem falschen Datum beruhte. Auch einen Stadtrat überzeugte der Archivchef davon, dass „Stuttgart sein Jubiläum bisher stets auf das Jahr 1229 bezogen“ habe. Versprechen, sagt Roland Müller, könne er aber, dass die Kulturverwaltung das Jubiläumsjahr 2029 schon in den Blick genommen habe.