Mladenko Tolo steuert einen der Touristenbusse. Startpunkt der Touren ist am Hauptbahnhof. Foto: Buchmeier - Buchmeier

Welchen Eindruck bekommen Reisende in drei Stunden von Stuttgart? Knallrote Cabrio-Doppeldeckerbusse kutschieren sie durch den Talkessel. Die Touren sind informativ und uncool zugleich.

StuttgartWas haben der Büstenhalter, die Spätzlepresse und quadratische Schokolade gemeinsam? In der Badstraße werden gut 60 Fahrgäste, sofern sie einen der neben ihren Sitzen installierten Kopfhörer aufgezogen haben, mit dieser heiklen Frage konfrontiert. Elf Sprachen (einschließlich Schwäbisch) bietet der Audioguide. Was wohl Spätzlepresse auf Russisch oder Arabisch heißt? Wie auch immer, die Antwort lautet: Die drei essenziellen Dinge wurden allesamt in Bad Cannstatt erfunden. Wieder was gelernt.

Seit vier Jahren rollen knallrote Touristenbusse durch Stuttgart. Rund eine viertel Million Schaulustige ließen sich darin bereits von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit chauffieren. Die meisten bevorzugen das luftige Oberdeck, denn es bietet nicht nur mehr Plätze als das Souterrain, sondern auch eine abgehobene Perspektive. Aus vier Metern Höhe könnte man jedem SUV durchs offene Schiebedach spucken, und der Sonne ist man auch ein Stückchen näher.

Der Startpunkt der Doppeldecker liegt schräg gegenüber dem Hauptbahnhof. Mladenko Tolo stärkt sich mit einer Schneckennudel, bevor er wieder hinters Steuer muss. Tolo hat jahrzehntelang als Lastwagen- und Fernbusfahrer gearbeitet, zwei Ehen sind an seinen unverbindlichen Arbeitszeiten gescheitert. London, Paris, Budapest – er hat die europäischen Topdestinationen kennengelernt. „Am schönsten ist es aber, wenn ich zu Hause in Stuttgart schlafen kann.“

Seit Tolo Touristen durch die Stadtschluchten seiner Wahlheimat chauffiert, verläuft sein Privatleben in ruhigeren Bahnen, und auch über seinen Berufsalltag kann er nicht klagen. „Ich lerne Menschen aus aller Welt kennen – Amerikaner, Saudis, Asiaten, aber auch viele Landsleute von mir“, sagt der 64-jährige Kroate. „Das ist interessant.“ Natürlich gibt’s ab und an Fahrgäste, die Stress machen. Erst vor ein paar Tagen haben ein paar Engländer nicht verstanden, dass sie am Haltepunkt Wilhelma/Neckarkäpt’n aussteigen müssen, wenn sie in den Zoo wollen. „Die erwarteten tatsächlich, dass ich wegen ihnen umdrehe.“

Wie ein Kutter auf stürmischer See

Die Rundfahrt geht los. Mladenko Tolo biegt in die Konrad-Adenauer-Straße ein. „Links siehst du die Staatsgalerie“, sagt der Audioguide, der locker drauf ist und wie in der Ikea-Werbung jeden duzt. Rechts die Oper, dahinter der Landtag. Es riecht im Doppeldecker-Cabrio nach Stuttgarter Luft, Luft, Luft – also nach Autoabgasen.

Erster Halt: Schlossplatz. In dieser Gegend treiben sich die meisten Touristen herum, entsprechend groß ist plötzlich das Gedränge auf dem Oberdeck. Während der Citytour, so der offizielle Name, gilt das Hop-on-hop-off-Prinzip: Man kann bei jeder Sehenswürdigkeit aussteigen und nach der Besichtigung mit dem nächsten Bus weiterfahren. Kurze Hosen und Wandersandalen gehören bei diesem Rein-raus-Trip zum Standard-Outfit. Es dominiert die Generation 50 plus. Manche Fahrgäste unterhalten sich angeregt, ohne die Kopfhörer abzunehmen. Das hat zur Folge, dass sich Nebensitzerinnen gegenseitig anbrüllen und ringsum jeder mitbekommt, was sie bewegt. „Wie geht’s eigentlich der Helga?“ – „Die kriegt noch Chemo.“ – „Ihre Schwester hatte ja auch Brustkrebs. Liegt wohl in der Familie.“

Derweil kurvt der Bus durch den Osten der Stadt. Rechts eine Waldorfschule, „die erste weltweit“, wie der Audioguide lehrt, links die Jugendherberge, drunten im Talkessel die gigantische Stuttgart-21-Grube und unzählige Kräne. Smartphones werden in die Höhe gereckt und verwackelte Fotos geschossen – der Doppeldecker schaukelt wie ein Kutter auf stürmischer See. Eine Rentnerin sagt zu ihrem Mann: „Ich hätte vor der Abfahrt besser noch mal auf die Toilette gehen sollen.“

Auf den besten Plätzen, hinter der Windschutzscheibe, sitzen Andrea und Lilly Meldinger aus Jork in Niedersachsen. Mutter und Tochter nutzen die Ferien, um den Südwesten der Republik zu erkunden. Der erste Eindruck von Stuttgart? „Die Hügel sind für mich als Flachländerin schon imposant“, antwortet Andrea Meldinger. „Aber die vielen Baustellen gefallen mir gar nicht.“

Auf Kanal 3 läuft schwäbisch

Sicherlich würde man die Landeshauptstadt besser kennenlernen, wenn man sie zu Fuß erkunden würde. Doch welcher Tourist hat schon die Zeit und die Kraft, von Degerloch nach Bad Cannstatt zu marschieren, weiter zur Weißenhofsiedlung und schließlich hinunter zum Hauptbahnhof? Wer 25 Euro investiert, um die beiden Touren durch den Norden und den Süden der Stadt mitzumachen, bekommt immerhin innerhalb von drei Stunden eine grobe Ahnung davon, wie Stuttgart tickt. Im Wortsinne erfährt man, wie wundervoll und wie schrecklich die schwäbische Metropole sein kann. Wenn der Bus durch die Halbhöhe rollt, bieten sich einerseits fantastische Blicke auf die Innenstadt, den Fernsehturm und die Weinberge. „Die Panoramastraßen am Killesberg gehören zu den exquisitesten Wohngegenden Stuttgarts“, erklärt der Audioguide. Andererseits hört man ständig das Verkehrsrauschen, das aus dem Kessel schallt – dazu gibt es keinen Kommentar aus dem Kopfhörer.

Nächster Stopp: Mercedes-Benz-Museum. Die Daimler AG hat extra für ihre Heimatstadt den Cabrio-Doppeldecker bauen lassen, um zu verhindern, dass die Museumsbesucher mit einem Bus ohne Stern an der Front anrollen. Bei der Präsentation des Prototyps vor gut vier Jahren wurde der Verbrauch des 380-PS-Diesels bauernschlau mit 0,4 Liter pro hundert Kilometer und Sitzplatz angegeben – was multipliziert mit 66 freilich gut 26 Liter ergibt.

Ist Stuttgart eine Reise wert? „Aber sicher!“, sagt Joachim Gellermann. „Ich kenne keine Großstadt, die so grün ist.“ Vermutlich hätte der 55-Jährige aus dem bayrischen Pfaffenhofen niemals Stuttgart besucht, würde nicht seine Tochter Wiebke hier eine Ausbildung machen. Nun sitzt die Familie im Bus. Mutter Susanne stellt fest: „Stuttgart braucht sich nicht hinter München zu verstecken.“ Schon ist man geneigt, auf die Schmeichelei hereinzufallen, da liefert der Guide ein Beispiel provinzieller Piefigkeit. Während der Bus über die Theodor-Heuss-Straße rollt, fragt der Guide: „Wusstest du, dass die Theo eine coole Partymeile ist?“

Man kann bei der Rundtour natürlich auf das elfsprachige Bildungsprogramm verzichten und sich aufs Hier und Jetzt konzentrieren. Andererseits ist es lustig, sich durch die zwölf Kanäle des Guides zu zappen. Stellt man den Regler auf „2“, ertönt der Kinderkanal, der am Burgholzhof altersgerecht erklärt: „Rechts liegt US-Hoheitsgebiet, das kannst du auch an den Zäunen erkennen.“ Schlossplatz, Kanal 3: „Stell dr mal vor, hier isch dr Herzog Karl Eigen scho vorbeikomma!“ Noch phänomenaler als die Aussicht ist das Italienisch auf Kanal 9: Allein der Klang der Sprache lässt den Fahrgast von Dolce Vita in südlichen Gefilden träumen. Dazu passt molto bene, dass der Durchschnittsstuttgarter doppelt so viel Wein trinkt wie der Durchschnittsdeutsche. Auch das lehrt der Audioguide.

Infos zur Busrundfahrt

Strecken: Die Blaue Tour führt über die Innenstadt in Richtung Neckar zum Mercedes-Benz-Museum und zum Killesberg. Sie dauert 100 Minuten. Die einstündige Grüne Tour geht durch den Süden (unter anderem zum Fernsehturm) und Westen.

Zeiten: In der Sommersaison verkehrt der Blaue-Tour-Bus täglich zwischen 10 und 16 Uhr im 40-Minuten-Takt, der Grüne-Tour-Bus von Freitag bis Montag sowie an Feiertagen zwischen 11 und 16.40 Uhr (in der Regel alle 80 Minuten).

Preise: Karten für eine Tour kosten für Erwachsene 15 Euro, für Kinder ab vier Jahre fünf Euro. Das Erwachsenen-Kombiticket für beide Strecken kostet 25 Euro.