Johanna Poltermann an ihrem Arbeitsplatz in der Staatsgalerie. Foto: Staatsgalerie - Staatsgalerie

Johanna Poltermann hat einen besonderen Beruf. Für die Staatsgalerie Stuttgart forscht sie nach den wahren Besitzern von Raubkunst. Sie ist die Detektivin der Moral.

StuttgartDie Bombe platzt am ersten Novembersonntag 2013. Der „Focus“ berichtet unter dem Titel „Der gerettete Schatz“ über Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Augsburg zum Fund von mehr als 1000 als verschollen geltenden Kunstwerken der klassischen Moderne im Besitz des Sammlers Cornelius Gurlitt. Das Magazin spekuliert voreilig über einen Milliardenwert und stellt einen Zusammenhang zur Raubkunst der Nationalsozialisten her. Am nächsten Morgen sitzt Johanna Poltermann allein in der Forschungsstelle „Entartete Kunst“ der Freien Universität Berlin, deren Leiterin Meike Hoffmann mit den Ermittlern zusammenarbeitet. „Das Telefon klingelte alle drei Minuten“, erinnert sich Poltermann.

Die wissenschaftliche Mitarbeiterin, die nach einer Zwischenstation an den Pinakotheken in München seit April 2018 an der Staatsgalerie Stuttgart forscht, ist an jenem Novembertag vor fünf Jahren von dem Sensationsfund genauso überrumpelt wie viele der anrufenden Journalisten. Doch der Gurlitt-Fall wird zum Glücksfall, für sie und die gesamte deutsche Provenienzforschung. Die Herkunftsgeschichte von Kunstwerken, also das Aufarbeiten früherer Besitzer und Eigentümer, tritt mit einem Schlag aus ihrem Schattendasein.

Dies hätte eigentlich schon nach 1998 geschehen sollen. Vor 20 Jahren verpflichteten sich Deutschland und 43 weitere Länder auf der „Washingtoner Konferenz über Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust“, die Kulturgutbestände ihrer öffentlichen Einrichtungen nach NS-Raubkunst zu durchforsten und mit den Erben der rechtmäßigen Besitzer eine „gerechte und faire Lösung“ zu finden. Museen in öffentlicher Trägerschaft waren aufgerufen, alle vor 1945 entstandenen und nach 1933 erworbenen Sammlungsstücke zu überprüfen. Allein: Bis zur Gründung der Arbeitsstelle für Provenienzforschung als Anlaufstelle für Förderanträge und zur Projektberatung dauerte es zehn Jahre. „2008 war es noch möglich, Kunstgeschichte zu studieren, ohne einmal mit dem Thema in Berührung zu kommen“, weiß Poltermann aus eigener Erfahrung.

Die gebürtige Brandenburgerin stieß zufällig während eines Praktikums in der Frankfurter Dependance des Auktionshauses Sotheby’s auf das Thema und beschäftigte sich in ihrem Masterstudium in Berlin mit der Kunst- und Kulturpolitik der Nationalsozialisten, speziell mit „entarteter Kunst“. Alles, was nicht in ihr Weltbild passte, ließen die Nazis aus Museen beschlagnahmen und zur Finanzierung der Kriegswirtschaft verkaufen. Einer der Beauftragten, Hildebrand Gurlitt, behielt jedoch viele Werke heimlich für sich. Als seine Sammlung bei Sohn Cornelius wieder ans Licht kam, waren die Provenienzforscher gefragt. Eine Taskforce aus internationalen Experten untersuchte den Ursprung der Kunstwerke, die Kulturstaatsministerin Monika Grütters erhöhte die Fördermittel für die Forschung um ein Vielfaches.

Johanna Poltermann unterstützte die Arbeit der Taskforce. „Ich hatte Glück, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein“, sagt die stellvertretende Vorsitzende des Vereins Arbeitskreis Provenienzforschung, für den sie sich ehrenamtlich für die Qualifizierung des Forschungszweigs und die Vernetzung der rund 250 Mitglieder engagiert. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf der Arbeit an der Staatsgalerie, die sie sich mit ihrer Kollegin Anja Heuß teilt. Die hohe Wertschätzung für den Forschungszweig im Haus habe sie überzeugt, bekennt Poltermann. Denn erhöhte Mittel hin oder her: Provenienzforscher auf Dauer einzustellen, können oder wollen sich deutsche Museen immer noch selten leisten.

Und dies, obwohl es viel zu tun gebe, auch abseits der gerechtigkeitsstiftenden moralischen Aufgabe, die Nazi-Raubzüge aufzuklären. Oder – was bislang nur unzureichend geschehen sei – Enteignungen der Kolonialzeit und der DDR aufzuklären. „Jedes Werk hat eine Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden“, sagt Poltermann – weil unter anderem jene Geschichte den Wert bestimmt, es also auch für Privatsammler wichtig ist zu wissen, durch welche Hände ein Kunstwerk bereits ging.

Das zu ergründen kann dauern. „Manchmal hast du die Lösung nach einem Tag, manchmal brauchst du drei Jahre“, sagt Poltermann. Ihr erster Blick bei einem Gemälde fällt auf die Rückseite und die Labels und Stempel dort. Sie sucht alte Ausstellungskataloge und Werkverzeichnisse der Künstler, prüft Internetdatenbanken, wühlt in Archiven, konferiert mit Kollegen und spricht mit Händlern, die sich oft schweigsam geben. Denn: „Diskretion gehört zum Geschäft.“ Nicht jeder Information sei zu trauen, ohne dass sie böswillig gefälscht sein müsse. „Du musst immer einen Doppelcheck machen und darfst nie voreilig zufrieden sein.“

Es ist zuweilen eine beschwerliche Detektivarbeit, aber eine, die Johanna Poltermann fasziniert. Und die stets das Potenzial birgt, dass eine neue Bombe platzt.