Der Rollstuhl ist für Michael Meßmer zum Begleiter geworden, der ihm immer dann hilft, wenn das Laufen schwerfällt. Foto: Eisenmann Quelle: Unbekannt

Von Andrea Eisenmann

Stuttgart - Die Diagnose kam unvorbereitet. Ein Sturz, als Michael Meßmer die Treppe des Wohnhauses hinab sprintet, gefolgt von einer Operation am Meniskus. Im Grunde nicht ungewöhnlich, denkt er. Schließlich hat er in seinem bisherigen Leben intensiv Sport getrieben und hart gearbeitet. Da kann es schon zu ersten Verschleißerscheinungen kommen. Doch auch nach der OP am Knie sind die Entzündungswerte zu hoch. Die Hausärztin wird misstrauisch und überweist ihn an einen Neurologen. Der damals 45-Jährige wird genaustens durchgecheckt. Nach einer weiteren Untersuchung im Krankenhaus wird ihm die Schockdiagnose mitgeteilt: Multiple Sklerose, kurz: MS. Von diesem Tag im Frühjahr 2006 ist das Leben des Stuttgarters schlagartig anders. An seine bisherige Arbeit als Messebauer ist nicht mehr zu denken, für eine Umschulung sei er zu alt, wird ihm mitgeteilt. Auch der alte Freundeskreis schrumpft zusehends. „Man sitzt plötzlich zuhause und weiß nicht recht, was Sache ist.“ Über die Autoimmunerkrankung, die das zentrale Nervensystem betrifft, weiß er zum Zeitpunkt der Diagnose so gut wie nichts. Geht das wieder weg, fragt er sich zunächst.

Es ist ein tiefes Loch, in das Meßmer fällt. Fast trotzig führt er in den folgenden Wochen Dauerläufe durch, um sich selbst zu beweisen, dass es ihm gut geht. „Ich war doch früher immer in Aktion, bin mit dem Fahrrad Down-Hill-Strecken gefahren“, sagt er, als ob er sich entschuldigen müsste. Die Angst vor dem Rollstuhl ist groß, Depressionen kommen hinzu. 2007 erleidet er einen weiteren schweren Schub. Fast zwei Stunden braucht er aufrund der Lähmungserscheinungen nach einem Sturz, bis er es zu seinem Telefon schafft und Hilfe rufen kann. Der anschließende Reha-Aufenthalt in Bad Wildbach verläuft jedoch anders als im Vorjahr. Dieses Mal lernt er, seine Krankheit und die damit verbundenen Grenzen zu akzeptieren und kämpft sich aus dem Tief wieder heraus. Er weiß, MS ist zwar noch nicht heilbar. Aber die Therapie hat in den vergangenen Jahren Fortschritte gemacht. Bei vielen Patienten lässt sich der Verlauf mit entsprechender Behandlung abmildern oder hinauszögern. Meßmer greift unter seinen Couchtisch und zieht mehrere Schachteln hervor. „Diese Tabletten helfen beim Laufen“, sagt er. „Dieses Medikament ist gegen die Spastik.“

Bei jedem Betroffenen macht sich die „Krankheit der 1000 Gesichter“ anders bemerkbar. Am häufigsten sind Taubheitsgefühle in Beinen oder Armen, Lähmungen und Sehstörungen. Andere sprechen undeutlich, leiden unter Stimmungsschwankungen, werden schnell müde oder vergesslich. Es gibt milde und schwere Schübe. 15 hat Meßmer bisher gezählt. „Bei mir geht es immer auf die Beine.“

Als eine junge Frau im Marienhospital in Gegenwart ihres Freundes die Diagnose MS erhält, ist der Stuttgarter zufällig gerade in der Nähe. Er bietet an, ihr bei Fragen zu der Krankheit weiter zu helfen. Seither ist Meßmer dort häufig ehrenamtlich für den Verein Amsel im Einsatz. Er berät Neuerkrankte, verteilt Informationsmaterial und hat für verzweifelte Angehörige ein offenes Ohr. Vor allem Eltern seien oft bestürzt, weil sie ihrem erwachsenen Kind nicht helfen können. „Das Leben ist ja nicht vorbei, nur weil man Multiple Sklerose hat“, sagt der 56-Jährige dann und geht mit gutem Beispiel voran. Regelmäßig trainiert er im Fitnessstudio. Seinen Rollstuhl nutzt er als Hilfsmittel - allerdings nur, wenn es mit dem Laufen überhaupt nicht mehr geht. Eine weitere Leidenschaft ist die Reparatur von kaputten Kaffeeautomaten und das gemeinsame Puzzeln mit seiner Freundin.

Bei seinen Reha-Aufenthalten hat Michael Meßmer viele Freunde in ganz Deutschland dazu gewonnen. Diese besucht er regelmäßig. Zehn Stunden mit dem Bummelzug nach Berlin? Kein Problem. „Ich habe Zeit“, sagt er lachend. Trotz aller wiedergewonnenen Lebensfreude und dem Optimismus, den er ausstrahlt, gibt es immer wieder auch Phasen, in denen er mit seinem Schicksal hadert und an sein „altes“ Leben zurückdenkt. „Aber nur ganz kurz“, versichert er.

Hilfe für Betroffene

Multiple Sklerose ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Im Körper eines gesunden Menschen ummantelt eine Isolierschicht die Nervenzellen, die Myelinscheide. Erkrankt eine Person an MS, greifen körpereigene Abwehrzellen diese Myelinscheiden an. Die Abwehrzellen bauen die Schutzschicht der Neuronen ab, obwohl sie eigentlich Fremdkörper wie Bakterien und Viren aufspüren und vernichten sollten. Als Folge wird das Gewebe, das die Körperabwehr angegriffen hat, vernarbt und verhärtet. Multiple Sklerose bedeutet auf Deutsch „mehrere Verhärtungen“.

Die Amsel, kurz für: Aktion Multiple Sklerose Erkrankter, Landesverband der DMSG in Baden-Württemberg, hilft seit 1974 MS-Kranken. Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, die Lebenssituation der Erkrankten und ihrer Angehörigen zu verbessern. Zu den Aufgaben gehört unter anderem Aufklärung und Information, die weitestgehende Integration MS-Kranker in Familie, Beruf und Gesellschaft sowie die Verbesserung des Zusammenlebens von Gesunden und Kranken.

Seit 1993 verleiht die Amsel Stiftung Ursula Späth jährlich dotierte Preise an Personen, die sich Verdienste zugunsten von Erkrankten erworben haben. Am kommenden Freitag, 13. Oktober, werden im Porsche-Museum geehrt: Professor Peter Flachenecker aus Pforzheim, Michael Alt aus Ludwigsburg, Karin Gaus aus Eislingen/Göppingen, Uwe Rademacher aus Hannover sowie Dr. Marko Reschke aus Berlin. Die frühere First Lady im Land, Ursula Späth, engagiert sich seit 35 Jahren als Schirmherrin für die Stiftung.