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Turmbläser gibt es in Stuttgart seit fast 400 Jahren, doch ihre Zukunft ist ungewiss.

StuttgartEin leichter, aber kalter Wind trägt die Melodie der drei Trompeten und der Posaune über die Stadt, über die Dächer der Häuser und die Buden des Weihnachtsmarkts. Siegfried Steiger ignoriert seine kalten Finger. Mit der linken Hand hält er seine Trompete fest umklammert; das Notenblatt hat er zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt. Die Finger seiner rechten Hand betätigen unermüdlich die Ventile, entlocken der Trompete die Melodie eines Chorals von Johann Sebastian Bach.

Schnee und Dauerregen, starker Wind, bei dem Notenblätter davonfliegen: Siegfried Steiger hat oben auf dem Turm schon alles erlebt. „Ganz egal, welches Wetter, wir spielen immer“, sagt er. Jeden Dienstag und Donnerstag erklingt Kirchenmusik vom Westturm der Stiftskirche. Nur im Sommer macht das Stiftsbläserquartett eine Pause – und wenn es im Winter richtig kalt wird. „Ab minus zehn Grad bis minus 15 Grad frieren an den Trompeten die Ventile oder an der Posaune der Zug ein“, erzählt Steiger. In den vergangenen Jahren sei das aber nie vorgekommen. Regnen tut es zwar häufiger, aber das schreckt die Turmbläser nicht: „Unsere Instrumente sind ja aus Messing. Das rostet nicht.“

Die Turmbläser der Stiftskirche blicken auf eine lange Tradition zurück. In diesem Jahr haben sie ihr 400-jähriges Bestehen gefeiert. Damit ist das Turmblasen eine der ältesten Traditionen Stuttgarts, wenn nicht sogar die älteste – doppelt so alt wie das Cannstatter Volksfest.

Der schmale Rundgang um die Turmstube ist rutschig nach dem Regen. Der Zug von Ferdinand Freys Posaune ragt beim Spielen über die etwa einen Meter hohe, steinerne Balustrade. Dahinter geht es rund 63 Meter in die Tiefe. Die Rücken der Turmbläser stoßen beinahe gegen die Turmmauer. Groß ist der Abstand zum Abgrund nicht. Wer Höhenangst habe, solle lieber drinnen bleiben, steht auf einem Schild im Inneren der Turmstube.

Nicht jeden Tag stehen dieselben vier Musiker auf dem Turm. „Aber wir spielen immer zu viert“, sagt Siegfried Steiger. „Wenn wir wegen Krankheitsfällen nur zu zweit oder zu dritt wären, spielen wir auch mal nicht.“ Außer Steiger steht an diesem Tag Helmut Dusch auf dem Turm. Er ist der dienstälteste der Turmbläser. Frédéric Rabold und Ferdinand Frey, mit Mitte 20 der mit Abstand jüngste in der Gruppe, vervollständigen das musikalische Quartett. Sie alle musizieren ehrenamtlich. Nur eine kleine Aufwandsentschädigung bekommen die Turmbläser – für Spritkosten oder Zugtickets. „In unserer heutigen, schnelllebigen Zeit ist es wichtig, dass man Traditionen pflegt“, sagt Steiger – wie die, zweimal in der Woche auf dem Turm der Stiftskirche zu musizieren. Im Jahr 1618 stiegen die Turmbläser jedoch immer sonntags und feiertags auf den Turm der Stiftskirche hinauf. Der genaue Tag, an dem zum ersten Mal Musik vom Westturm erklang, ist nicht überliefert. Knapp 20 Jahre später wurde die Turmbläser-Tradition der Stiftskirche festgeschrieben. „Und seit 1659 wurde dann regelmäßig vom Stiftsturm geblasen“, sagt Siegfried Steiger. Seit mittlerweile 20 Jahren trägt er seine Trompete nun diesen Turm hinauf. Eine schmale, steinerne Wendeltreppe schlängelt sich nach oben. Man kann gerade so einen Arm ausstrecken. 140 Stufen steigt Steiger immer im Kreis hinauf, den Trompetenkoffer fest in der linken Hand. Auf dieser Seite ist mehr Platz. Gerade so viel, dass er nicht ständig aufpassen muss, dass sein Koffer gegen die Wände stößt.

Auf die 140 steinernen Stufen folgen knapp weitere 100 aus Holz. Sie sind noch steiler als die in der Wendeltreppe. Wie oft er all diese Stufen schon hochgelaufen ist, weiß Helmut Dusch nicht mehr. Der älteste der vier Turmbläser ist bereits seit 40 Jahren dabei. „Wir spielen immer einen Choral“, sagt er. „Welcher das ist, ist abhängig vom Zeitpunkt im Kirchenjahr.“ Pünktlich um 8.45 Uhr erklingt der Choral zum ersten Mal. In die erste Strophe mischen sich die drei Schläge der Kirchenglocken. Auf der Baustelle gegenüber der Kirche halten die Bauarbeiter für einen Moment in ihrer Arbeit inne, auf dem Rathausplatz bleiben Passanten stehen, schauen nach oben zum Turm.

Manche der Zuhörer sind nicht nur zufällig da. „Wir haben richtige Fans, die extra zur Stiftskirche fahren, um uns spielen zu hören“, sagt Siegfried Steiger, zum Beispiel aus den Stuttgarter Vororten auf den Fildern. Beschwert habe sich über die Musik noch nie jemand, im Gegenteil. Doch die Zukunft der Turmbläser ist ungewiss. „In den vergangenen Jahren war die Finanzierung etwas problematisch“, sagt Steiger. Das Geld der bislang letzten großen Spende sei fast aufgebraucht. Noch bis 2020 sei die Finanzierung gesichert. „Das Schönste wäre, wenn die Turmbläser der Stiftskirche auch noch ihr 500-Jahr-Jubiläum feiern könnten“, sagt Steiger. Nun hofft man auf neue Spenden.