Jörg Schleyer lebt in Stuttgart und arbeitet als Kommunikationsberater. Schmerzhaft, sagt er, seien für ihn bis heute die Videobotschaften, die seinen Vater als erniedrigten Mann zeigen. Foto: Eisenmann Quelle: Unbekannt

Von Andrea Eisenmann

Stuttgart - Der erste Anruf kam von der Bild-Zeitung. Ob er wisse, was mit seinem Vater in Köln passiert sei, wird Jörg Schleyer von einem Reporter gefragt. Es ist kurz nach 18 Uhr. Etwa eine halbe Stunde ist er zu diesem Zeitpunkt wieder zuhause, nachdem er zuvor mit seiner Mutter ein Café in der Kronprinzstraße in Stuttgart besucht hatte. Nein, sagt er ahnungslos. Der Anrufer legt auf. Zwei Minuten später klingelt das Telefon erneut. Dieses Mal ist die Deutsche Presse Agentur dran. „Haben Sie gehört, dass auf Ihren Vater ein Attentat verübt worden ist“, wird der damals 23-Jährige gefragt. Wieder muss der Student verneinen. „Es war eine skurrile Situation. Die Medien waren schneller als die Polizei. Die ersten Bilder haben wir in den Heute-Nachrichten gesehen.“

In den nächsten Stunden und mit jeder weiteren Sendung wird den Familienmitgliedern klarer, was sich am Abend des 5. Septembers 1977 in der Vincenz-Statz-Straße in Köln abgespielt haben muss: Kurz vor 17.30 Uhr wird das Auto von Hanns Martin Schleyer auf der Fahrt zu seiner Dienstwohnung von einem RAF-Kommando überfallen, der Fahrer sowie drei Sicherheitsbeamte werden getötet, der 62-Jährige entführt. Es ist der Auftakt jenes dramatischen Kapitels, das unter der Bezeichnung „Deutscher Herbst“ in die Nachkriegsgeschichte eingehen wird. Für die RAF-Terroristen steht der „Boss der Bosse“ mit seiner SS-Vergangenheit wie kaum ein anderer für das von ihnen verhasste kapitalistische System. Ihr Plan: Mit Schleyer als Geisel sollen elf Häftlinge der RAF im Gefängnis in Stuttgart-Stammheim freigepresst werden.

Jörg Schleyer, der heute als Kommunikations- und Marketingberater arbeitet, ist der jüngste der vier Söhne des Arbeitgeberpräsidenten. Die Ähnlichkeit mit dem bekannten Vater ist groß. Lediglich das Gesicht des heute 63-Jährigen ist etwas schmaler geschnitten, die großgewachsene Gestalt deutlich hagerer. Dass sein Vater als mögliches Opfer der linksextremistischen Terroristen galt, sei diesem bekannt gewesen. Immer wieder war der Name auf entsprechenden Listen aufgetaucht. „14 Tage vor seiner Entführung wurde Personenschutz angeordnet“, erinnert er sich. Wie Hanns Martin Schleyer mit der Bedrohung umging? „Er hat relativ wenig darüber geredet. Man hatte ja bis zur Ponto-Ermordung im Grunde keine Erfahrung, was geschehen könnte.“ Seine Einstellung könne man am ehesten mit „fatalistisch“ beschreiben - „Was passiert, passiert.“

Nach der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten an jenem Septemberabend beginnt der größte Polizeieinsatz in der Geschichte der Bundesrepublik, Tausende Beamte sind an der Suche beteiligt. Fahrzeuge werden angehalten, Grenzübergänge kontrolliert. Für Hanns Martin Schleyer dauert das Martyrium derweil an. Die Terroristen verhören ihn, sperren ihn in einen mit Schaumstoff ausgepolsterten Schrank, mehrmals wird die konspirative Unterkunft gewechselt.

Die folgenden 43 Tage werden für die Familie in Stuttgart zu einer Achterbahnfahrt der Gefühle: Traurigkeit, Verzweiflung, Hilflosigkeit wechseln sich ab. Immer neue Mutmaßungen über das mögliche Versteck werden aufgestellt, zahlreichen Hinweisen wird nachgegangen, die in der Familie Hoffnung aufkeimen lassen. Vor der Tür stehen Polizisten, im Haus sind 24 Stunden am Tag Mitarbeiter des Bundeskriminalamts (BKA) zugegen. „Wir wussten, dass auf Zeit gespielt wurde - und hatten dafür auch Verständnis. Viele Abwägungen waren schließlich zu treffen.“ Die Frage, die der von Bundeskanzler Helmut Schmidt eingerichtete Große Krisenstab zu entscheiden hat, lautet: Wird das Leben Schleyers hinter die Staatsräson gestellt oder geht man auf die Austauschforderung der Terroristen ein? Letzteres hatte man zwei Jahre zuvor bei der Entführung des Berliner CDU-Chefs Peter Lorenz getan - allerdings begingen die Freigelassenen der Guerilla-Organisation „Bewegung 2. Juni“ später wieder Attentate. Auch dieses Risiko gilt es zu bedenken.

Besonders schmerzhaft sind für die Angehörigen die Videobotschaften, die einen erniedrigten Mann im Unterhemd oder in Turnjacke zeigen. Später trägt er wieder ein Jackett, das allerdings den fortschreitenden Verfall seines Körpers nicht verdecken kann. „Es waren sicherlich 20 bis 25 Kilogramm, die er in den sechs Wochen verloren hat.“ Nicht alle Videobotschaften werden der Familie gezeigt. „Manche haben wir erst ein halbes Jahr später gesehen.“

Mit der Befreiung der entführten Lufthansa-Maschine „Landshut“ und den Selbstmorden der Terroristen in Stammheim ist jedem in der Familie klar, dass dies das Todesurteil für Hanns Martin Schleyer bedeutet. Am 19. Oktober 1977 wird der 62-Jährige im Kofferraum eines Autos im Elsass gefunden. Wer die tödlichen Kopfschüsse abgab, ist bis heute nicht geklärt.

Oft wurde Jörg Schleyer in den vergangenen Jahren zum Thema „Versöhnung“ befragt. Ein hehrer Begriff, sagt er nachdenklich. „Es ist schwierig von Versöhnung zu sprechen, wenn auf der anderen Seite gar nichts passiert, es keine richtige Reue gibt.“ Durch die Taten der RAF seien Familien auseinandergerissen worden, zum Teil seien diese an den Schicksalen zerbrochen. „Nicht nur meinem Vater ist Schlimmes widerfahren.“

Schleyer hat sich intensiv mit den Geschehnissen auseinandergesetzt. „Zeit heilt tatsächlich Wunden, auch wenn es abgedroschen klingt“. Was-wäre-wenn-Gedanken sind für ihn tabu, welcher der Terroristen seinen Vater letztlich ermordet hat, spielt nur eine untergeordnete Rolle. „Mich interessiert eher, wie mein Vater die letzten zehn Minuten, die letzte Stunde erlebt hat. Wie es ihm ging.“

Ab und an spricht Jörg Schleyer in Schulen vor jungen Zuhörern über die traumatische Zeit in seinem Leben. Auch in einigen Fernsehsendungen war er in den vergangenen Wochen zu sehen. Wichtig ist ihm, nicht zum „Handlungsreisenden“ zu werden, der mit seinem persönlichen Schicksal hausieren geht. „Für uns Kinder war es am Ende einfacher, damit zu leben, als für meine Mutter.“ Der Vater habe etwa 300 Tage im Jahr im Hotel gelebt. Im Ruhestand wollte das Ehepaar gemeinsam reisen. Darauf habe sich die Mutter gefreut. „Für sie ist mit der Ermordung ein Stück ihrer Lebensplanung zerbrochen.“

Im April 2013 erhält mit dem früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt jener Mann den Hanns-Martin-Schleyer-Preis, der einst auf die Unnachgiebigkeit des Rechtsstaats beharrt hatte. Die Rede des 94 Jahre alten Preisträgers trägt den Titel „Gewissensentscheidung im Konflikt“. Darin versichert Schmidt, drei Erlebnisse hätten sein Leben erschüttert - der Tod seiner Frau, sein Besuch in Auschwitz und die Ereignisse rund um die Entführung Schleyers, für dessen Tod er eine Mitverantwortung übernimmt. Jörg Schleyer zeigt sich noch immer gerührt über die Worte. „Es hat sich für mich an diesem Tag ein Kreis geschlossen.“