In der Wasenschule wird auf Eins-zu-Eins-Betreuung gesetzt, was für Ruhe im Klassenraum - ein Schulungsraum der Feuerwehr - sorgt. Quelle: Unbekannt

Von Christine Frischke

Bad Cannstatt - Gestern hat das Cannstatter Volksfest begonnen. Viele Schausteller sind schon länger auf dem Festgelände - samt ihren Kindern. Unterrichtet werden sie in einer Schule, wie es sie sonst nirgends in Deutschland gibt.

Am Morgen steigt der zehnjährige Rudi in Stuttgart aus einem Wohnwagen und läuft vorbei an Achterbahnen, Festzelten und Essensbuden zur Schule. Er hat es nicht weit: Sein Klassenzimmer befindet sich direkt auf dem Cannstatter Wasen. Seine Mutter ist Schaustellerin und wann immer sie mit ihrem Wohnwagen loszieht, kommt Rudi mit. Seine Klassenkameraden führen ein Leben wie er, tingeln mit den Eltern in Deutschland von Fest zu Fest. Dass sie in Stuttgart während des Auf- und Abbaus und dazwischen für die Dauer des Wasens zusammen lernen können, haben sie Michael Widmann zu verdanken.

Widmann ist einer von elf Bereichslehrern in Baden-Württemberg, der sich um die Kinder von Schaustellern, Zirkusleuten und anderen beruflich Reisenden kümmert. Auf dem Rücken seines schwarzen Shirts ist ein Riesenrad aufgedruckt. Der 54-Jährige hat die Wasenschule zum Frühlingsfest 2016 ins Leben gerufen. Damals kamen 18 Schüler, inzwischen sind es 30 - von der ersten bis zur zehnten Klasse. Laut Widmann ist es die bisher einzige Schule dieser Art. Beim größten Volksfest im Land, dem Oktoberfest in München, gibt es nichts Vergleichbares, wie eine Sprecherin bestätigte.

In den Vorjahren wurden die Schaustellerkinder auf verschiedene Schulen in Stuttgart verteilt. Zu Widmanns Aufgaben gehört, ihnen eine unterrichtsbegleitende Förderung zu bieten. Ihm steht zwar noch eine Kollegin zur Seite, doch auch für zwei waren es während der großen Volksfeste einfach zu viele Kinder. Um ihnen gerecht zu werden, kam Widmann die Idee mit der Wasenschule. Kollegen hatten ihm abgeraten. Zu laut, zu undiszipliniert würde das Lernen werden. Er war anderer Meinung: „Ich wusste, ich brauche nur genügend Leute.“ Die Kinder werden im Zeitraum vom 11. September bis 13. Oktober betreut.

Im Klassenzimmer, das eigentlich der Schulungsraum der Feuerwehr ist, hat sich inzwischen ein junger Mann neben Rudi gesetzt. Sie büffeln gemeinsam Mathe. Auch an den anderen Tischen beugen sich jeweils zwei Köpfe über die Aufgaben. Widmann setzt auf eine Eins-zu-eins-Betreuung - und hat damit Ruhe in die Klasse gebracht. Es sind Lehramtsstudenten, pensionierte Lehrer und Ehrenamtliche, die über das Bildungspaten-Programm der Stadt Stuttgart zur Wasenschule gekommen sind. Die älteste Patin ist 91 und reist mit Rollator an.

„Die Defizite bei den Kindern sind groß“, sagt Widmann. Umso wichtiger sei es, sich ganz auf ihre jeweiligen Bedürfnisse einzustellen. Unterrichtet werden die Kinder an zwei Stunden am Tag in den Fächern Deutsch, Mathe und Englisch. „Das reicht, weil der Unterricht durch die individuelle Betreuung so intensiv ist.“ Jeden Tag schreiben die Bildungspaten den behandelten Stoff für die sogenannten Stammschulen der Kinder auf. Das sind die Schulen, an denen sie angemeldet sind und von denen sie auch Lernpakete und Aufgaben für die Reisezeit erhalten.

Für das Bildungsangebot der Schausteller- und Zirkuskinder ist das Kultusministerium zuständig. Nach seinen Angaben sind im Jahr rund 900 Kinder mit ihren Eltern in Baden-Württemberg unterwegs, 400 von ihnen sind in Stammschulen im Land angemeldet. Das Ministerium lobt die Arbeit von Widmann und seinem Team: So hätten die Kinder die Chance, „in einer vertrauten Umgebung gemeinsam in der Nähe zum Veranstaltungsort gefördert zu werden.“ Auch Rudi bestätigt: „In der Wasenschule lerne ich besser als sonst.“ Gerade hat er sich bei seinem Lehrer beschwert. Die Matheaufgaben seien zu leicht. Rudi ist in der fünften Klasse, Gymnasialniveau. Angemeldet ist er in der der Schule für Circuskinder in Nordrhein-Westfalen. Normalerweise hat er drei Mal die Woche Unterricht übers Internet. In der Wasenschule hat er Klassenkameraden, die meisten kennt er schon lange.

Joanna zum Beispiel: Ihre Eltern haben ein Fahrgeschäft. Seit acht Jahren tourt sie mit ihnen durchs Land. Momentan lernt die 14-Jährige für ihren Abschluss im nächsten Jahr. „Wenn ich sonst an eine Schule geschickt werde, kenne ich erst mal niemanden, das ist hier viel besser.“ Nach den bestandenen Prüfungen will sie unbedingt bei ihren Eltern einsteigen. Rudi hat ganz andere Pläne: „Ich werde Fußballer, aber wenn das nicht klappt, dann werde ich halt doch Schausteller.“