Zum Streik bereit: Heute beginnen die Tarifverhandlungen für die Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg.Archivbild: dpa Quelle: Unbekannt

In sieben Wochen langen Streiks legten 1984 knapp 58 000 IG-Metall-Mitglieder ihre Arbeit nieder. „Das Ende muss bedeuten, dass die Produktion oder ganze Standorte ins Ausland verlagert werden.“

Von Maria Krell

Esslingen/Stuttgart - Für Steffen Weinert ist Zeit eine äußerst wichtige Ressource. So wichtig, dass er bereit ist, für sie zu streiken. „Ich habe einen sechs Monate alten Sohn. Zur Zeit gehe ich aus dem Haus, wenn er noch schläft oder komme erst sehr spät nach Hause.“ Weinert, Elektroingenieur beim Elektrokonzern Siemens in Kirchheim und IG-Metall-Mitglied, wünscht sich flexiblere Arbeitszeiten, um mehr Zeit mit seiner Familie verbringen zu können. Und wenn es nach der IG Metall geht, dann soll er sie auch haben.

Die IG Metall, die 3,9 Millionen Beschäftige in der Metall- und Elektroindustrie vertritt, zieht in die heute startenden Tarifverhandlungen mit der Forderung nach einer sechsprozentigen Lohnerhöhung und der Option für Beschäftigte, ihre Arbeitszeit temporär zu verkürzen und dann wieder auf Vollzeit aufzustocken.

Das stößt nicht überall auf Zuspruch. Rainer Dulger, Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, warnte die Gewerkschaft kürzlich öffentlich davor, die „Büchse der Pandora“ zu öffnen, und drohte mit Produktionsverlagerung ins Ausland und einer „Tarifflucht, die sich gewaschen hat“. Arbeitgeber im Südwesten legten nach: Die IG Metall sei „endgültig im Wolkenkuckucksheim angekommen“.

Was Arbeitgeber erzürnt, ist nicht die Forderung nach mehr Geld, sondern die nach einem wertvolleren Gut: Zeit. Der Branche geht es bestens, schon jetzt müssen Aufträge liegen bleiben, weil Unternehmen nicht genügend Fachkräfte haben. Da ist die Forderung nach einer „28-Stunden-Woche“ ein Reizbegriff, der bei manchem vielleicht Erinnerungen an das Jahr 1984 weckt.

33 Jahre ist es jetzt her, dass die Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche in den größten Metallerstreik in der Geschichte der Bundesrepublik gipfelte. In sieben Wochen langen Streiks legten damals knapp 58 000 IG-Metall-Mitglieder ihre Arbeit nieder, die Unternehmen konterten mit Aussperrungen, ließen hunderttausend Arbeitnehmer vor ihren Toren stehen. Bundesweit standen die Fließbänder still. Arbeitgeber errechneten später einen Verlust von zehn Millionen Arbeitstagen. Am Ende setzte sich die IG Metall durch und erzwang die Verkürzung der Arbeitszeit - wenngleich es noch bis 1995 dauerte, bis die 35-Stunden-Wochen tariflich festgeschrieben war.

Mit dem Arbeitskampf der 80er-Jahre hat die 28-Stunden-Woche aber wenig zu tun. Die größte Gewerkschaft Deutschlands will nicht weniger Arbeitszeit durchdrücken, sondern eine flexiblere: Arbeitnehmer sollen künftig das Recht erhalten, ihre Arbeitszeit für maximal zwei Jahre auf bis zu 28 Wochenstunden zu reduzieren, um danach wieder in ihre Vollzeitstelle zurückkehren. Was die IG Metall also fordert, ist das Recht auf Rückkehr in Vollzeit. Einen gesetzlichen Teilzeitanspruch hat heute bereits fast jeder Arbeitnehmer. Einen Anspruch auf Rückkehr in die Vollzeitstelle nicht. Besonders Frauen sitzen oft in der „Teilzeitfalle“ fest, obwohl viele gerne mehr arbeiten würden. Einen Gesetzesentwurf zum Rückkehrrecht von Teil- in Vollzeit gab es bereits von der ehemaligen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Er scheiterte aber am Widerstand des Kanzleramts. Nun probiert es die Gewerkschaft im Alleingang.

Darüber hinaus fordert die IG Metall einen Lohnausgleich: So sollen es sich auch untere Gehaltsklassen leisten können, ihre Arbeitszeit bei gleich bleibendem Stundenlohn zu reduzieren. Dieser Zuschuss gilt aber nur für bestimmte Gruppen: Arbeitnehmer, die ihre Arbeitszeit drosseln möchten, um Kinder unter 14 Jahren zu betreuen oder Angehörige zu pflegen, sollen von ihren Arbeitgebern einen fixen Zuschuss von 200 Euro pro Monat erhalten. Menschen, die in Schichtbetrieben oder anderen gesundheitsbelastenden Arbeitszeitmodellen arbeiten, sollen 750 Euro pro Jahr erhalten. Die florierende Branche mit ihren überquellenden Auftragsbüchern, so die Argumentation, könne sich das problemlos leisten.

„Wir wollen diesen Entgeltausgleich als eine zeitgemäße Sozialleistung tariflich regeln, weil Zeit für Kinder und Pflege gesellschaftlich notwendig ist“, sagte IG-Metall-Vorsitzender Jörg Hofmann. Weiter heißt es, das Mantra der Arbeitgeber „Vollzeit plus Überstunden plus Leistungsverdichtung plus Flexibilität“ habe ausgedient. Über flexible Arbeitszeiten solle nicht mehr nur der Arbeitgeber entscheiden können.

Stefan Wolf, Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes Südwestmetall, sieht das anders. „Klar ist doch: Die Arbeit muss erledigt werden, wenn Markt und Kunden dies verlangen. Und die Arbeit darf nicht noch teurer werden.“ Wenn das garantiert sei, „können wir auch über weitere Möglichkeiten für unsere Mitarbeiter sprechen“. Die 28-Stunden-Woche würde nicht nur den Fachkräftemangel verstärken; mit den „überzogenen“ Gehalts- und Ausgleichsforderungen würde die IG Metall Investitionen in Digitalisierung und Elektromobilität ebenso wie Arbeitsplätze gefährden. „Das Ende muss bedeuten, dass die Produktion oder ganze Standorte ins Ausland verlagert werden“, kritisierte auch Gesamtmetall-Präsident Dulger. „Mehr Geld fürs Nichtstun wird es mit uns nicht geben.

Nach einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags gaben 30 Prozent der deutschlandweit fast 2750 befragten Unternehmen in der Industriebranche an, dass sie 2016 nicht alle ausgeschriebenen Stellen besetzen konnten. Dulger spricht deutschlandweit von 7000 offenen Stellen in der Metallbranche. Eine 28-Stunden-Woche würde nach seiner Schätzung eine Schneise von 200 000 fehlenden Fachkräften in die Belegschaften schlagen.

Wieviele Menschen letztlich tatsächlich ihre Arbeitszeit verringern würden, lässt sich schwer sagen. Bevor die Gewerkschaft das Thema Arbeitszeit auf ihre Agenda setzte, initiierte sie eine Beschäftigtenbefragung. 680 000 Menschen nahmen daran teil. Das Ergebnis: 70,9 Prozent sind zufrieden mit ihrer Arbeitszeit, nur 20 Prozent wünschen sich, weniger als 35 Wochenstunden zu arbeiten. 80 Prozent fänden es dennoch gut, ihre Arbeitszeit vorübergehend absenken zu können.

Der IG-Metall-Vorsitzende Hofmann betrachtet eine Flexibilisierung der Arbeitszeit zugunsten der Beschäftigten als Chance. „Um für Fachkräfte attraktiv zu sein, ist es ganz entscheidend, welche Arbeitszeitmodelle ein Unternehmen anbietet. Unsere Industrie leistet sich heute immer noch einen Frauenanteil von lediglich 20 Prozent. Das liegt auch an der Arbeitszeitkultur.“ Auch Gerhard Wick, Geschäftsführer der IG Metall Esslingen, spielt den Ball an die Unternehmen zurück: „In Esslingen gab es einen Rückgang der Ausbildungszahlen. 2017 haben Betriebe wie Festo oder Index weniger Auszubildende eingestellt als das Jahr zuvor.“ Außerdem: Viele Betriebe zahlten einfach zu wenig. „Ich kann mich auch darüber beschweren, dass es nicht genügend Porsches für 10 000 Euro gibt.“ Besonders jene sollten sich an die eigene Nase fassen, die nicht nach Tarif bezahlten.

Dulger wiederum beziffert das durchschnittliche Jahresentgelt eines Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie auf 56 000 Euro. Würde dieser auf 28 Wochenarbeitsstunden reduzieren, verdiente er noch 44 350 Euro im Jahr. Plus Zuschuss von 200 Euro pro Monat ergäbe sich in diesem Fall eine Lohnsteigerung von 5,4 Prozent - zusätzlich zu der geforderten sechsprozentigen Lohnerhöhung. Allerdings: In der untersten Entgeltgruppe verdient nach Angaben der Siegerländer Metallindustriellen ein Arbeitnehmer 15,07 Euro pro Stunde. Würde er ohne Zuschuss seine Arbeitszeit reduzieren, würde er monatlich 1687 Euro brutto verdienen.

Gustav Horn, Leiter des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, schätzt es so ein: „Ich finde den Vorschlag der IG Metall sehr modern.“ Es sei aber „völlig klar, dass die Erfüllung dieser Forderung Prozentpunkte beim Abschluss kosten wird“.

Die IG Metall hat bei den Verhandlungen jedenfalls ein großes Druckmittel: „1984 haben wir vier Wochen lang gestreikt, und das Lager war leer. Heute reichen zwei Tage“, sagte der Esslinger IG-Metaller Wick.

Ob sich nun genug Beschäftigte hinter der Gewerkschaft versammeln und auf eine größere Gehaltserhöhung verzichten, damit ein paar Kollegen ihre Arbeitszeit reduzieren können, ist offen. Für Menschen wie Steffen Weinert kommt die Forderung genau zur richtigen Zeit. „Wenn man es jetzt nicht anpackt, wann dann?“