Boris Palmer (Bündnis 90/Die Grünen), Oberbürgermeister der Stadt Tübingen, spricht bei einem Interview. Foto: Sebastian Gollnow/dpa - Sebastian Gollnow/dpa

Egal, ob es um Flüchtlinge geht, um Erziehung oder Enteignung - Boris Palmer poltert und provoziert gern. Streit gehört für das Tübinger Stadtoberhaupt zum Geschäft.

Tübingen (dpa/lsw)Jeden Tag wird Boris Palmer beschimpft, bepöbelt, beleidigt. Er will das gar nicht anders. «Ich gehe da hin, wo es weh tut», sagt er. Und meint damit das Netz, die Kommentarspalten auf seiner Facebookseite. Wenn der Tübinger Oberbürgermeister dort mal wieder die Erziehungsmethoden von Zuwanderern kritisiert oder Eigentümer zum Verkauf ihrer Grundstücke zwingen will, kochen die Emotionen hoch. Palmer findet es gut, wenn gegensätzliche Meinungen aufeinanderprallen. «Ich streite mich mit den Extremen von rechts und links», sagt der 46-Jährige. Ob es ihm Spaß mache, sich immer wieder in Shitstorms zu werfen? «Nein. Aber ich weiche eben auch nicht aus.»

Dabei redet er doch auch so gern über Kommunalpolitik. Boris Palmer ist seit 2007 Oberbürgermeister von Tübingen. Er sitzt in seinem Büro im zweiten Stock des Rathauses und hält eine doppelt bedruckte DIN-A4-Seite hoch, die er sich für das Gespräch zurechtgelegt hat. Er nennt sie Liste seiner Erfolge. Und dann rattert er seine Verdienste als Stadtoberhaupt herunter, etwa dass der CO2-Ausstoß pro Kopf in Tübingen in seiner Amtszeit um 32 Prozent gesunken und die Zahl der Arbeitsplätze um 25 Prozent gestiegen sei.

Mehr «Schwarzbrot», weniger «Brimborium»

Es müsse mehr über Sachpolitik gesprochen werden, über das «Schwarzbrot», die mühsamen Entscheidungen im Gemeinderat, fordert Palmer. Und weniger über das «Brimborium», wie er es nennt. Allerdings ist Palmer selbst Meister des Brimboriums. Der Provinzbürgermeister poltert, provoziert und polarisiert wie wenige andere Politiker in Deutschland. Und das in einem Tempo und einer thematischen Breite, die bundesweit ihresgleichen sucht.

Allein im vergangenen halben Jahr hat er ein Kopftuch-Verbot für junge Mädchen an Schulen und Kindergärten gefordert, eine Steuer auf Einwegpappbecher und Nudelboxen angekündigt, wegen einer nächtlichen Ruhestörung hat er sich als Ordnungshüter mit einem Studenten angelegt und damit bundesweit Aufsehen erregt. Vor wenigen Tagen erst sprach sich Palmer dafür aus, Grundstückseigentümer zum Verkauf ihrer Flächen zu zwingen, wenn sie diese nicht bebauen.

Palmer sieht sich als Mann, der die Dinge offen anspricht, besonders in der Migrationsdebatte. Er habe die Erfahrung gemacht, dass man sofort als Nazi oder Rassist beschimpft werde, wenn man auf Probleme mit Gruppen aufmerksam mache, die Diskriminierungen erleiden müssten, sagt er. «Dass diskriminierte Gruppen zugleich Problemgruppen sein können, ist vielen nicht vermittelbar.»

Palmer ist gerne unbequem

Palmer ist gerne unbequem. «Man muss halt manchmal auch mit Streit leben», sagt er. Alles sei besser als Schweigen. Der wütende Widerstand liegt in der Familie. Sein Vater Helmut Palmer kämpfte als «Remstal-Rebell» lautstark gegen Obrigkeit und Behördenwillkür. Der hatte damals aber noch kein Facebook. Palmer maximiert mit den sozialen Medien die Aufmerksamkeit. Etwa, wenn er nach dem Besuch eines Spielplatzes die Erziehungsmethoden von Zuwanderern kritisiert. Im Tübinger Gemeinderat hören Palmer 40 Leute zu. Auf Facebook sind es mittlerweile mehr als 45 000.

Mit seinen unverblümten Vorstößen holte er sich in den eigenen Reihen immer wieder eine blutige Nase. Dabei galt Boris Palmer lange als große Zukunftshoffnung der Grünen. Als Kronprinz von Ministerpräsident Winfried Kretschmann wurde er gehandelt, als Rathauschef in Stuttgart, als Minister im Land und führender Kopf einer möglichen schwarz-grünen Koalition im Bund. Im November 2012 warfen ihn die Grünen aus dem Parteirat, dem Führungsgremium auf Bundesebene. Die Berliner Grünen-Politikerin Canan Bayram legte ihm 2017 nahe, er solle «einfach mal die Fresse halten». Noch immer bekommt manch Grüner Schnappatmung, wenn Palmer wieder postet.

Zukunft in der Provinz

Der zweifache Familienvater gilt als intelligent, als politisches Talent. Palmer hat Mathematik studiert. Im einstündigen Gespräch erwähnt er den Soziologen Ralf Dahrendorf, den Philosophen Karl Marx und den Soziologen Heinz Bude. Aber wie sieht er sich selbst? Linksliberal? «Ich verorte mich immer schon schlicht bei der pragmatischen Analyse der Sache.» Er erkenne Probleme und spreche Lösungen an - ob seine Partei das nun gut findet oder nicht. Palmer selbst sieht seine Zukunft aber in der Provinz. Sein wichtigstes Projekt sei derzeit der Bau eines neuen Busbahnhofs und die Planung der regionalen Stadtbahn.

«Er macht es einem oft schwer, positiv mit ihm umzugehen», sagt der grüne Tübinger Bundestagsabgeordnete Chris Kühn. Er kennt Palmer seit knapp 20 Jahren - und ärgert sich immer wieder über ihn. «Palmer ist ein leidenschaftlicher Politiker, der davon überzeugt ist, was er sagt. Er ist blitzgescheit, aber er ist auch jemand, der den Streit sucht, auf Polarisierung geht.» Besonders beim Flüchtlingsthema habe Palmer einen Keil zwischen sich und die Grünen getrieben. Wie Palmer hingegen die Debatte um Baugebote angestoßen habe, das habe er richtig gut gefunden, sagt Kühn. Palmer will Grundstückseigentümer zum Verkauf ihrer Flächen zwingen, wenn sie diese nicht bebauen.

Kühn sagt, der 46-Jährige habe zwei Gesichter. «Es gibt unterschiedliche Boris Palmer: den Oberbürgermeister, der einen guten Job macht, und den Medien-Boris-Palmer.» Um den Medien-Palmer dürfte es nun erstmal ruhiger werden. Der Oberbürgermeister hat angekündigt, im Mai Facebook-fasten zu wollen. Er schreibt derzeit ja auch an seinem neuen Buch. Darin will er die Politik aufrufen, nicht Stimmungen, sondern Fakten zu folgen.