Gebhard Fürst, Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Foto: Christoph Schmidt/dpa - Christoph Schmidt/dpa

«Bis ins Mark erschüttert» ist Stuttgarts katholischer Bischof Fürst vom Ausmaß des sexuellen Missbrauchs in der Kirche. Er bietet jedem Opfer Gespräche an. Fakten zur Lage in der Diözese Rottenburg-Stuttgart.

Stuttgart/Freiburg (dpa/lsw) - Der massenhafte Kindesmissbrauch durch Geistliche hat Stuttgarts katholischen Bischof Gebhard Fürst nach eigenen Worten schwer erschüttert. Er bat die Opfer am Montag erneut um Entschuldigung mit Blick auf das Bekanntwerden erster Details einer bundesweiten Studie zum Kindesmissbrauch durch Kleriker. «Noch immer bin ich bestürzt über die große Anzahl der Taten und der Täter, aber auch über die Last der Schuld in unserer Kirche», sagte Fürst in Stuttgart.

Die Deutsche Bischofskonferenz will die Studie «Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige» am 25. September vorstellen. Vorab war bekannt geworden, dass sie für die Zeit von 1946 bis 2014 sexuelle Vergehen an 3677 überwiegend männlichen Minderjährigen protokolliert. Hier einige erste Ergebnisse auch mit Blick auf die Diözese Rottenburg-Stuttgart.

  • OPFER: Die Kommission sexueller Missbrauch der Diözese listet knapp 150 Vorwürfen möglicher Opfer gegen Geistliche und Laien auf. Teils reichen diese bis in die 40er Jahre zurück. Etliche Fälle stammen den Angaben der Diözese zufolge aus Kinderheimen der 60er Jahre. Eine überwiegende Zahl der Meldungen ging in den Jahren 2011 bis 2013 ein. Wie viele Opfer sich nie meldeten, wird ewig im Dunkel bleiben.
  • TÄTER: Als mögliche Täter wurden 70 Priester und 2 Diakone der Diözese ausgemacht - von denen jedoch 45 bereits gestorben sind. Ihre Vergehen reichen vom Spannen unter der Dusche bei Freizeiten von Kommunionskindern bis zu sexuellen Übergriffen. Schwerer sexueller Missbrauch im Sinne von Vergewaltigung sei der Diözese nicht bekannt, hieß es. Jedoch habe es elf schwere Fälle gegeben, die der Kongregation für die Glaubenslehre in Rom gemeldet werden mussten.
  • KONSEQUENZEN: Unter dem Strich wurden zwei Kleriker ihres Amtes enthoben. In den anderen neun Fällen wurden sogenannte Verweise ausgesprochen, die laut Diözese mit Gehaltseinbußen für bis zu fünf Jahre einhergingen. Für alle mutmaßlichen Täter und einige Beschuldigte seien psychiatrische Gutachten angefordert worden, um Fragen möglicher Therapien und der Weiterbeschäftigung zu klären.
  • AUFARBEITUNG: Laut Fürst war die Diözese Rottenburg-Stuttgart bundesweit Vorreiter bei der Aufarbeitung. Vor 16 Jahren wurde die Kommission sexueller Missbrauch eingerichtet. Aktuell wird sie von der ehemaligen Landesministerin Monika Stolz geleitet. Sie nimmt alle Hinweise zu sexuellem Missbrauch an Minderjährigen durch Kleriker, Ordensangehörige oder andere Mitarbeiter der Kirche entgegen. Fürst erfüllt persönlich jeden Gesprächswunsch. «Stets aufs Neue ist mir ans Herz gegangen, was den Opfern an unvorstellbarem Leid zugefügt wurde», berichtete Fürst. «Jeder einzelne Fall zeigt, wie es Menschen verändert, die einem sexuellen Missbrauch zum Opfer gefallen sind und die meist ein Leben lang darunter leiden.»
  • PRÄVENTION: «Selbst die beste Prävention wird sexuellen Missbrauch nicht verhindern können», räumte die Präventionsbeauftragte der Diözese, Sabine Hesse, ein. Sie leitet eine Stabsstelle, die 2012 dauerhaft im Bischöflichen Ordinariat eingerichtet wurde. Es brauche Achtsamkeit auf allen Ebenen. Allein das Sprechen über sexuellen Missbrauch und Prävention sorge dafür, «dass das von Tätern auferlegte Schweigen gebrochen und die Tabuisierung aufgehoben wird», sagte Hesse. «Deshalb kann auch die Zunahme von Anzeigen ein gutes Zeichen sein.»
  • ERZDIÖZESE FREIBURG: Hier will man sich vorerst nicht äußern. «Wir kennen die Zahlen und Ergebnisse noch gar nicht und werden daher die Präsentation der Studie am 25. September abwarten», sagte der Sprecher der Erzdiözese, Michael Hertl, am Montag: «Erst nach Bekanntgabe der Studie haben wir die Zahlen und Fakten verlässlich auf dem Tisch und können adäquat reagieren.» Dies sei innerhalb der Bischöfe so vereinbart. «Auch wir, die Verantwortungsträger im Erzbistum Freiburg, müssen uns die Frage stellen, wo wir mitschuldig geworden sind, wo wir Bedingungen unterstützt haben, unter denen Minderjährigen durch Kleriker unermessliches Leid zugefügt werden konnte», ließ Erzbischof Stephan Burger mitteilen. Die Diözese werde prüfen, welche Konsequenzen sie aus den Vorfällen ziehen müsse. Nötig sei «verantwortungsvolle und sensible Aufarbeitung», schrieb Burger.

Was tut die Diözese Stuttgart zum Schutz vor sexuellem Missbrauch?

Seit sechs Jahren hat die Stuttgarter Diözese eine Stabstelle für Prävention, Kinder- und Jugendschutz. Die Deutsche Bischofskonferenz hatte die Einrichtung solcher Stellen 2010 für jede Diözese vorgeschrieben. Die Stelle unterstützt Einrichtungen beim Erstellen von verpflichtenden Schutzkonzepten etwa für Kitas. Die Prävention findet bei der Priesterausbildung Raum, ebenso wie bei der Fortbildung sonstiger Mitarbeiter. Kinder, Jugendliche und ihre Eltern werden über Flyer oder Broschüren mit Infos versorgt.

Alle Beschäftigten unterzeichnen einen Verhaltenskodex. Besonderes Augenmerk liegt laut Diözese auf der Personalauswahl. Vor Einstellungen müssen erweiterte Führungszeugnisse vorgelegt werden. In einer Selbstauskunftserklärung versichern neue Mitarbeiter, dass sie nie im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt verurteilt wurden oder ein Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet wurde.