Foto: Arge Lola Quelle: Unbekannt

Stuttgart/Freiburg - Der Stuttgarter Kinderpsychiater Michael Günter äußert sich zu den Fehlern im Missbrauchsfall von Staufen. Das Elternrecht, sagt er, gehe gegenüber dem Kinderrecht oft vor.

Wie kann es sein, dass ein Kind wegen des Verdachts des Missbrauchs vom Jugendamt aus einer Familie herausgenommen wird und das Familiengericht es dann einfach zurückschickt?

Günter: Dass sich der Beschluss der Familienrichter am Ende in tragischer Weise als falsch erwies, ist offensichtlich. Die Frage ist, ob da fahrlässig gehandelt wurde. Und ich denke, da muss man aufpassen. In der Regel wird in Sorgerechtsfällen unglaublich viel überlegt und diskutiert. Soll man das Kind herausnehmen oder nicht? Gerade der Freiburger Senat des Oberlandesgerichts ist mir als besonders gewissenhaft bekannt.

Fehlt es vielen Richtern trotzdem an Fachkompetenz, wie Familienministerin Katarina Barley sagt?

Günter: Diese Reaktion aus der Politik ärgert mich. Jetzt wie Frau Barley Schulungen für Richter zu fordern ist zu einfach und kommt mir etwas populistisch vor. Zunächst sollte man den Fall genau untersuchen und aufarbeiten. Dann kann man erkennen, ob und gegebenenfalls wo gravierende Fehler gemacht wurden. Ein Problem ist, dass der Europäische Gerichtshof die Elternrechte so sehr gestärkt hat und dass dies auf Kosten der Kinderrechte ging.

Lautet denn der Grundsatz: eine schlechte Familie ist immer noch besser als gar keine Familie?

Günter: Weder so herum noch andersherum ist es richtig. Die Frage, die man sich in Sorgerechtsverfahren stellen muss, ist: Gibt es Möglichkeiten, die Familie so zu stärken, dass es zwar nicht ideal - das wird es in solchen Fällen nie -, aber tragbar und verantwortbar ist, das Kind in der Familie zu belassen? Eigentlich ist die Situation am Familiengericht nicht schlecht, weil da Juristen, Pädagogen und Psychiater zusammenkommen. Jede Fachrichtung denkt unterschiedlich, so dass eine gute Entscheidung auf breiter Grundlage möglich ist.

Im vorliegenden Fall ist das offenbar nicht gelungen. Es war kein Psychiater da.

Nicht mal das Kind wurde in diesem Fall angehört.

Günter: Eigentlich gibt es eine Verpflichtung dazu. Kinder müssen oder sollten angehört werden, nur bei jüngeren Kindern kann das Gericht davon absehen, wenn es gravierende Gründe dafür gibt. Ob die im vorliegenden Fall vorlagen, weiß ich nicht. So wie ich es kenne, hören die Gerichte in beiden Instanzen die Kinder an. Ab dem Alter von drei Jahren können Kinder schon ganz gut Angaben zu ihren Wünschen, Bindungen und zu ihrem Erleben machen. Man muss sie natürlich altersgerecht anhören.

Die beteiligten Gerichte sagen, sie hätten den Buben schonen wollen.

Günter: Wir haben das beforscht und festgestellt, dass der Augenblick der Aussage eine akute Belastung für ein Kind darstellt - das Ganze ist aufregend. Langfristig sind aber keine Beeinträchtigungen bei den Kindern zu befürchten. Ein Neunjähriger ist dem in der Regel gewachsen. Andererseits will man natürlich in solchen Fällen zusätzliche Belastungen vermeiden.

Dann war der Verzicht auf die Anhörung ein Fehler?

Günter: Ob eine Anhörung zu einem anderen Ergebnis geführt hätte, lässt sich schwer sagen. Oft sagen die Kinder gerade in den ganz schlimmen Fällen, dass alles bestens sei und sie zu Hause bei der Familie bleiben wollen. Was da in Freiburg zu dieser für das Kind entsetzlichen Fehleinschätzung führte, ließe sich nur bei genauer Kenntnis des gesamten Verfahrens sagen.

Das Interview führte Eberhard Wein.