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Ob Auto, Lastwagen, Bus oder Prototyp: Seit mehr als 60 Jahren testet die Daimler AG auf der werkseigenen Einfahrbahn am Cannstatter Neckarufer Fahrzeuge. Alle Straßen- und Geländearten auf dem Parcours sind original­getreue Nachbauten real existierender Strecken auf der ganzen Welt.

Bad Cannstatt Mit einem lauten Dröhnen jagt die schwarze Limousine über die Teststrecke. Selbst die 100 Meter lange Steilwand schreckt den tollkühnen Fahrer nicht ab – mit Tempo 150 zieht er am oberen Rand seine Spur, scheinbar unbeeindruckt von der gehörigen Schräglage. Dabei ist die körperliche Belastung bei einer solchen Testfahrt enorm. Die Piloten müssen deshalb im zweistündigen Turnus abgelöst werden.

Die Grenzen von Technik und Material auszutesten, darum geht es auf der Einfahrbahn der Daimler AG vor den Toren des Stammwerks Untertürkheim. Seit mehr als 60 Jahren schon gibt es diese Teststrecke am Cannstatter Neckarufer. Und bis heute hat sich nur wenig verändert. Die Gesamtlänge der Versuchs- und Prüfstrecken beträgt 15 460 Meter, wovon 3018 Meter als Schnellfahrstrecke ausgelegt sind. Zudem gibt es sieben verschiedenen Steilstrecken mit Neigungen zwischen 5 und 70 Prozent sowie die Steilkurve mit einem Neigungswinkel von bis zu 90 Grad. Ergänzt werden sie durch extreme Verwindungsstrecken für Nutz- und Geländefahrzeuge und Sprunghügel zum Erreichen extremer Federstellungen. Alle Straßen- und Geländearten auf dem Parcours sind übrigens originalgetreue Nachbauten real existierender Strecken auf der ganzen Welt.

Erster Vorschlag 1953

Den Vorschlag zum Bau einer Teststrecke unterbreitete Entwicklungschef Fritz Nallinger schon im November 1953, denn die Auto-Nachfrage in der Wirtschaftswunderzeit wuchs beträchtlich. Die Modellpalette von Daimler musste wachsen – und die Entwicklung deshalb effizienter gestaltet werden. Sein Vorschlag: Auf einem lang gestreckten Grundstück in Unternehmensbesitz direkt am Werk Untertürkheim, dem sogenannten „Flaschenhals“, sollte eine Versuchsstrecke gebaut werden. Im Januar 1955 reichte das Unternehmen sein Baugesuch bei der Stadt Stuttgart ein. Der Vorstand der Daimler-Benz AG gab im Juli 1956 grünes Licht und schon 1957 ging die erste Ausbaustufe der Einfahrbahn in Betrieb. Zur Ausstattung gehörte damals bereits eine Rutschplatte mit konzentrisch angelegten Fahrbahnringen aus verschiedenen Belägen: Blaubasalt, Beton, Rutschasphalt und Großpflaster. Die integrierte Bewässerungsanlage ermöglichte Nässeerprobungen.

Bald zeigte sich, dass die Versuchsstrecke den vielfältigen Testanforderungen nicht umfassend gerecht wurde: Die Ingenieure wünschten sich noch bessere Möglichkeiten für Schnellfahr-, Dauer- und Schlechtwegetests. Zudem wollten sie Nutzfahrzeuge auf Steilstrecken ausprobieren können. So wurde die Anlage schrittweise erweitert und, nach Jahren strikter Geheimhaltung, 1967 erstmals öffentlich vorgestellt.

Egal ob Pkw, Lastwagen, Unimog, Omnibus, Rennwagen oder Prototyp, hier werden bis heute alle Fahrzeuge des Stuttgarter Autobauers auf Herz und Nieren getestet, bevor sie in die Hände der Kunden übergeben werden. „Die Einfahrbahn wird nach wie vor intensiv genutzt“, berichtet Daimler-Sprecherin Silke Kögler. Und nicht nur von den werkseigenen Testfahrern: Die Strecke ist für etwa 2500 Besucher jährlich ein eindrucksvolles Erlebnis – in einem eigens zur Verfügung gestellten Bus kann man sie buchstäblich erfahren.

Wind und Regen simuliert

Getestet wird zum Beispiel die Fahrsicherheit bei widrigem Wetter. „Dazu dient die 34 Meter lange Seitenwindstrecke, an der 16 Turbinen installiert sind, die seitliche Böen mit Geschwindigkeiten von bis zu 100 Kilometern pro Stunde erzeugen“, berichtet Kögler. Für die Dauererprobung gibt es auch Waschbrett-, Rüttel- und Schlaglochstrecken, unersetzlich ist auch die „Heidestrecke“. Dieser Schlechtwegeparcours hat seinen Namen bekommen, weil er einer besonders schlechten Straße in der Lüneburger Heide der frühen 1950er-Jahre nachgebaut wurde. Eine weltweite Premiere stellte die sogenannte Wedelstrecke dar – auf diesem Abschnitt werden die Fahrwerke bei hoher Geschwindigkeit und abrupten Fahrbahnwechseln auf ihre Fahrstabilität hin getestet. Dabei liefern im Boden verlegte Messschleifen elektronische Daten. Sie fließen zusammen in die Bewertung der Fahrwerksabstimmung ein.

Das 8,4 Hektar große Testgelände wird immer wieder neuen Bedingungen angepasst. So gibt es seit kurzem auch eine Strecke mit Flüsterasphalt zur Geräuschmessung. Diese kontinuierliche Aktualisierung mache die Einfahrbahn in Untertürkheim bis heute zu einem wichtigen Entwicklungswerkzeug für neue Technologien und Fahrzeuge, betont Kögler. Mittlerweile gibt es Einfahrbahnen auch in anderen Werken der Daimler AG. „An dieser Vielfalt und den jeweils unterschiedlich gestalteten Testgeländen wollen wir auch in den kommenden Jahren festhalten“, sagt Kögler.

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Sie sind präsent im Stadtbezirk und dennoch weiß man wenig über ihre Geschichte oder Funktion. Denn nur wenige Menschen haben Zugang zu diesen Orten – weshalb eine gewisse Magie von ihnen ausgeht. Wir haben diese geheimnisvollen Orte besucht und stellen sie in loser Folge vor.