Auf den Spuren der Vorfahren: Hans Klett und seine Frau Victoria (Mitte) mit Tochter Helene und Sohn Hans (links) sowie Tochter Karina und Schwiegersohn Felipe (rechts) vor dem Cannstatter Kursaal. Quelle: Unbekannt

Der Großvater von Hans Klett ist 1922 nach Südamerika ausgewandert. Eltern und Geschwister folgten ihm später nach Chile. Sein Enkel hat sich nun in der alten schwäbischen Heimat auf Spurensuche begeben.

Bad CannstattMit neugierigem Blick läuft Hans Klett durch die Straßen von Bad Cannstatt. Ob sein Großvater Oscar Klett wohl das Gartenhaus von Gottlieb Daimler und den markanten Turm in dessen Gartengrundstück im Kurpark gekannt hat? Ob er jemals im Kursaal gewesen ist? Ob vielleicht ein entfernter Verwandter auf dem Uff-Kirchhof seine letzte Ruhestätte fand? Ob die Familie Gottesdienste in der Stadtkirche besucht hat? Wie sah die schwäbische Heimat einst aus? Und was ist davon geblieben, 97 Jahre nach seiner Auswanderung?

Oscar Klett hatte, gerade mal 20-jährig, am 29. April 1922 in Bremen die „Gotha“ bestiegen mit Ziel Buenos Aires – dritte Klasse ging es für den ledigen Mechaniker aus Cannstatt mit einem Schiff des Norddeutschen Lloyd nach Argentinien. „Er war eine Art Wirtschaftsflüchtling wie so viele in jener Zeit“, übersetzen Marisol Cartagena und Gabriela Martinez, die in Deutschland lebenden Cousinen von Hans Klett, dessen Ausführungen. Er könne leider kein Wort Deutsch, bedauert er zutiefst. Der Großvater habe seine Muttersprache nicht an die Kinder und Kindeskinder weitergeben. Und auch sonst kein deutsches Brauchtum gepflegt, räumt Hans Klett ein. „Er war eben gut integriert in seiner neuen Heimat“, erzählt der 58-Jährige fast entschuldigend. „Aber es lag auch ein wenig an den schwierigen politischen Zeiten in unserem Land.“

Gemeinsam mit seiner Familie – der Ehefrau Victoria, den Töchtern Helene und Karina, Sohn Hans und Schwiegersohn Felipe – ist der gebürtige Chilene auf Besuch in Bad Cannstatt. Ein Leben lang habe er für diese Entdeckungsreise zu seinen eigenen Wurzeln gespart. Und sich jetzt endlich seinen Herzenswunsch erfüllen können. Warum ist ihm dieser Besuch mit einem dicken Briefumschlag voller alter Fotografien im Gepäck eigentlich so wichtig? Weil der Krankenpfleger mit den grau-blauen Augen und dem dunkelblonden Haar auch noch in der dritten Generation daheim in Santiago de Chile oft „el alemán“ – der Deutsche genannt werde. „Ich möchte sehen, wo meine Familie herkommt. Möchte verstehen, warum ich ein bisschen anders bin als die anderen Chilenen: fleißig und pünktlich zum Beispiel“, erklärt Hans Klett lächelnd. Ob das wirklich so typisch deutsch ist?

Die Geschichte der Cannstatter Familie Klett – die eigenem Bekunden nach nicht mit der Stuttgarter Verlegerdynastie oder dem früheren Oberbürgermeister Arnulf Klett verwandt ist – ist eine erfolgreiche Auswanderergeschichte. Als nach dem Ersten Weltkrieg die deutsche Wirtschaft am Boden lag und in der Weimarer Republik die Entwicklung stagnierte, versuchte einer der Söhne von Gotthilf und Elisa Klett sein Glück in der Ferne – zunächst in Comodora Rivadavia, einer Hafenstadt im Süden Argentiniens. Für südamerikanische Verhältnisse war Oscar gut ausgebildet. „Er konnte Pläne zeichnen, war technisch versiert und handwerklich begabt. Zudem war er genügsam, das kam an“, erzählt Hans Klett. Sein Großvater heiratete wenig später die Chilenin Aida Perez und Sohn Hans kam zur Welt. Als ihm Arbeit in Chile angeboten wurde, zog die Familie in die Hauptstadt. 1926 folgte ihm sein Bruder Wilhelm dorthin nach – wie aus den Bremer Passagierlisten hervorgeht, ging es für ihn auf der „Sierra Cordoba“ zunächst nach Buenos Aires. Dann schlug er sich wohl auf dem Landweg nach Santiago de Chile durch, wo sich die Brüder eine gutbürgerliche Existenz aufbauten. „Anders als die Südamerikaner, die ihr Geld gern ausgeben, waren sie sparsam“, erzählt Hans Klett. Das Verständnis der Landsleute für diese schwäbische Tugend sei aber gering gewesen: „Sie haben oft spöttisch zu hören bekommen, sie würden gar nicht richtig leben.“ Freilich: Reich seien Oscar und Willi Klett nicht geworden, räumt Hans Klett jr. ein. „Ihnen war es aber immer wichtig, für sich und die Familie zu sorgen.“

1936 haben die beiden Brüder dann auch die Eltern und ihre Schwester Gertrud nachgeholt – wo genau die Familie damals in Cannstatt lebte, ist den Nachfahren nicht bekannt. „Gertrudis“, wie die Tante liebevoll genannt wurde, sei es zu verdanken, dass es einige Erinnerungen an die alte Heimat gibt. Die Tradition, an Ostern ausgeblasene und bunt bemalte Eier aufzuhängen zum Beispiel, erzählt Helene Klett. „Als ich klein war, habe ich von ihr ein solches Ei gekommen und es gleich kaputt gemacht, weil ich dachte, da ist etwas drin versteckt. Wir kannten so etwas ja nicht.“

104 Jahre alt ist Gertrud Klett geworden. Als sie 2015 starb, hinterließ sie unter anderem eine alte Ansichtskarte von Stuttgart aus den 1930er-Jahren – „unsere Heimat“, wie sie handschriftlich in Spanisch darauf notiert hatte. Die vergilbten Schwarz-weiß-Motive darauf sind für Hans Klett und seine Familie so etwas wie ein Reiseführer: Abgebildet sind das einstige Rathaus, das Alte und das Neue Schloss, der Hauptbahnhof, der Königsbau, die Oper, der Mittnacht- und der Hindenburg-Bau. Diese Sehenswürdigkeiten seien sie selbstverständlich abgelaufen. „Aber es hat sich doch einiges verändert“, stellen sie fest. Natürlich waren die technikbegeisterten Männer auch im Mercedes-Benz-Museum und im Porsche-Museum. „Die Leidenschaft für Fahrzeuge hat sich über die Generationen vererbt.“ So hätten Oscar und Willi beide den Flugschein besessen und seien Kleinflugzeuge geflogen.

H ans Klett bleibt für die Reise in die Vergangenheit nur wenig Zeit – ganze vier Tage ist er in Cannstatt. Aber er sei überglücklich, das Land seiner Vorfahren kennengelernt zu haben, verabschiedet er sich. Todo lo mejor – alles Gute.