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Auf eine Zeitreise begeben sich 20 Jungarchitekten der Universität Stuttgart. Ihr Ziel: Bad Cannstatt im Jahr 2030. Dafür haben die Studierenden ein halbes Jahr lang fast jede Ecke der Sauerwasserstadt ausgeleuchtet. Nun sollen sie Strategien für die Zukunft entwickeln. Allerdings: Der Stadtbezirk befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise, lautet eine der Vorgaben.

Bad CannstattBad Cannstatt im Jahr 2030. Im neuen Veielbrunnenareal ist urplötzlich eine Wirtschaftskrise ausgebrochen, auf dem renaturierten Cannstatter Wasen ist kein Platz mehr für Bierzelte und auch der Blick in andere Stadtquartiere regt zum Staunen an: Im Espan etwa widersetzt sich eine Hippie-Kommune jeglicher politischer Kontrolle und gründet einen eigenen Tauschmarkt, um dem Establishment den Rücken zu kehren.

So verrückt hört es sich zuweilen an, wenn der internationale Masterstudiengang „Integrated Urbanism and Sustainable Design“ seiner Fantasie im Namen der Wissenschaft freien Lauf lässt. Eines aber sei vorneweg versprochen: Eine Rolle spielen die Szenarien ausschließlich im achten Obergeschoss der Architekturfakultät an der Universität Stuttgart. In dem klobigen Hochhausklotz am Rande des Stadtgartens sitzen derzeit 20 Jungarchitekten aus 13 verschiedenen Nationen über den letzten Zügen ihrer Arbeit zu Stuttgarts größtem Stadtbezirk. Gut ein halbes Jahr lang haben sie jede Ecke Cannstatts ausgeleuchtet und sich so häppchenweise ein eigenes Bild der Sauerwasserstadt erarbeitet. Jetzt steht der erste Teil ihres Seminars kurz vor dem Abschluss.

Die utopischen Behauptungen von Hippies im Espan oder einem Naturschutzgebiet auf dem Cannstatter Wasen dienten den Studierenden dabei vor allem als Denkkonstrukt, wie Aaron Schirrmann berichtet. Der Dozent zeichnet sich zusammen mit seiner Kollegin Shaharin Elham Annisa für das Semesterprojekt des Masterstudiengangs verantwortlich, jedem Jahrgang geben sie einen neuen Teil der Kesselstadt an die Hand. So wurde für die aktuelle Gruppe Bad Cannstatt zur neuen Spielwiese erhoben. Allein aufgrund seiner Größe stelle der Bezirk eine besondere Herausforderung dar, so Schirrmann. „Außerdem gibt es hier ein multikulturell und sozial sehr vielschichtiges Leben. Ich finde man merkt, dass der Bezirk Potenzial hat. Gleichzeitig ist aber noch viel Luft nach oben.“

Ein Teil dieses Potenzials möchten die Studierenden in diesem Semester erschließen: Mit innovativen Methoden versuchen sie sich seit Oktober, auf stadtplanerischen Pfaden dem Stadtbezirk anzunähern. „Im ersten Schritt haben wir den Studierenden Analysemethoden nähergebracht. Seit einigen Wochen gibt es nun sechs Projektgruppen, die anhand fiktiver Vorgaben Strategien zur Stadtentwicklung erarbeiten sollen. Deswegen gehen wir von extremen Situationen wie einer Wirtschaftskrise aus: Das sind für uns fiktive Experimente“, erklärt Schirrmann. Erst im nächsten Semester folgt dann die Kür: „Im Sommer werden wir versuchen, die Strategien in kleinen Realexperimenten im Stadtbezirk anzuwenden.“

Erst einmal gilt es aber, mit den Modellsituation in Bad Cannstatt fertig zu werden. Einen kleinen Vorgeschmack gibt es am Tisch der Projektgruppe „Veielbrunnenweg“. „Als wir zu Beginn des Projekts Cannstatter nach dem Veielbrunnengebiet gefragt haben, kam oft ein fragender Blick zurück. Manche kennen die Gegend gar nicht, für viele ist das Quartier ein eher ärmeres Viertel“, berichtet Vivienne Mayer. Die Tübingerin ist eine von nur zwei Deutschen im Studiengang, ihr zur Seite stehen als weitere Gruppenmitglieder der Kolumbianer Juan Ortegon und die Inderin Aarti Dhingra. Die drei sind mittlerweile schon zu echten Cannstatt-Experten herangewachsen. „Dieser Stadtbezirk hat so eine einzigartige Lage mit dem Neckar in direkter Nachbarschaft. Wie konnte man nur so dumm sein, das städteplanerisch all die Jahre zu vernachlässigen und die Flächen an die Industrie zu verkaufen“, spricht Mayer einen für sie besonders heiklen Punkt im Stadtbild an. Den Eindruck der deutschen Studierenden können die meisten nur bestätigen: Die Kritik an Cannstatts Umgang mit dem Fluss zieht sich wie ein roter Faden durch die Gespräche der angehenden Stadtplaner.

Im Veielbrunnenareal lauern auf Mayer und ihre Mitstreiter aber noch ganz andere Herausforderungen: Im Fallbeispiel droht dem Stadtgebiet eine Wirtschaftskrise – kein Problem für die kreativen Köpfe aus dem Seminarraum. „Das Areal ist sehr weit entfernt vom Ortskern Bad Cannstatts. Wir möchten daher einen eigenen Wirtschafts- und Lebenskreislauf etablieren. Erweitert haben wir das Ganze um einige Ideen und Vorschläge, die zusammen ein intaktes Cannstatter Viertel um den Veielbrunnen schaffen“, erläutert Juan Ortegon die Strategie des Trios, die bereits in grob skizzierten Zügen auf Poster gebannt wurde. Im finalen Schritt des Semesters müssen die Studierenden nun den Wust aus Konzepten zügig in Reinform gießen – denn die Zeit drängt: In wenigen Tagen möchte der Seminarkurs seine Visionen im Rahmen einer Ausstellung der Öffentlichkeit präsentieren.

Am Dienstag, 4. Februar, lädt der Masterstudiengang zur Präsentation seiner Ergebnisse in das achte Obergeschoss des Universitätsgebäudes Keplerstraße 11 in Stuttgart-Mitte. Beginn ist um 18 Uhr.

www.iusd.uni-stuttgart.de