Die Schüler des Albertus-Magnus-Gymnasiums und Lehrer Alfred Hagemann (3. von links) mit einem Modell des Mahnmals. Foto: fh - fh

Schülerinnen und Schüler des Albertus-Magnus-Gymnasiums kämpfen in einem Projekt, das 2004 ins Leben gerufen wurde, gegen das Vergessen der Gräueltaten der Nationalsozialisten an den Juden.

Bad CannstattDer Ort, an dem der Holocaust für Samuel Krämer erstmals ein Gesicht bekam, wird den Schüler des Albertus-Magnus-Gymnasiums (AMG) wohl nie loslassen: Mitten in Paris, im Angesicht eines unscheinbaren Wohnhauses unweit des Eiffelturms sei das gewesen, berichtet er heute. Hinter der Fassade steckte weit mehr, als der durchschnittliche Passant vermuten dürfte: Das Gebäude ist der Geburtsort von Hélène Berr, einer französischen Jüdin. 1921 geboren, erlebte sie noch in ihrer Jugend die Machtergreifung der Nationalsozialisten, wurde im Alter von 23 Jahren deportiert und verstarb kurze Zeit später im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Nur um wenige Tage verpasste sie die Erlösung durch britische Streitkräfte, die sich in diesem Frühjahr zum 75. Mal jährt – ebenso wie die Auschwitz-Befreiung am 27. Januar.

Viele der Opfer sind mitsamt ihrer Leidensgeschichten mittlerweile in sauber archivierten Akten verschwunden. Hélène Berr hätte posthum wohl Ähnliches gedroht – gebe es da nicht ihre akribisch geführten Tagebücher und junge Leute wie Samuel Krämer, die sich den Horror-Erzählungen aus dem Konzentrationslager annehmen. Viele Stunden hat der Abiturient im Rahmen eines Schulprojekts auf das Studium der Schriftstücke verwendet, immer wieder hat er sich lesend durch die brutale Realität der 30er- und 40er-Jahre gekämpft. Richtig beeindruckend wurde es für Krämer aber erst, als er an den Ort des Geschehens reiste: „Mitten in einer so großen Stadt wie Paris auf solch eine Geschichte zu treffen, hat mich sehr berührt.“ Sein Stufenkollege Julian Kohleisen, der ebenfalls zu den Gräueltaten der Nationalsozialisten recherchierte, fügt an: „Man hört ja immer diese Zahlen von sechs Millionen ermordeten Juden. Erst durch solche Geschichten wird einem aber bewusst: Hinter diesen Zahlen stehen sechs Millionen berührende Einzelschicksale.“

Bewusstsein und Erinnerung – das ist das, was vielen jungen Menschen heute laut einer Studie der Körber-Stiftung fehlt. Nur 59 Prozent aller Schüler gaben bei der Umfrage im Jahr 2017 an, das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau als Inbegriff nationalsozialistischer Verbrechen zu kennen. Auch am Albertus-Magnus-Gymnasium kennt man diese Unwissenheit. „Ich habe Klassenkameraden, die teilweise abfällig über den Holocaust sprechen“, berichtet Benjamin. Der Achtklässler gehört in seiner Stufe ebenso zu den Ausnahmefällen wie seine sieben geschichtsinteressierten Mitschüler, mit denen er die Gruppe der „Denkmalpfleger“ bildet. Das Projekt steht seit seiner Gründung 2004 im Mittelpunkt des Kampfes gegen das Vergessen am katholischen Albertus-Magnus-Gymnasium. Alle drei Wochen führt Lehrer Alfred Hagemann sein Team in die König-Karl-Straße, wo einst die Cannstatter Synagoge stand. Seit 2004 erinnert dort ein von AMG-Schülern miterdachtes Kunstdenkmal an die Zerstörung des Gotteshauses durch die Nationalsozialisten. Dem Platz fühlt sich die Schule bis heute verpflichtet. „Wir schauen, dass kein Müll die Gegend verschandelt, nichts beschmiert oder kaputt gemacht worden ist“, berichtet ein Mitglied der Helfertruppe aus der Praxis. Für viele ist es der erste Berührungspunkt mit dem Nationalsozialismus, einige hatten das zurückhaltende Synagogen-Mahnmal zuvor nie wahrgenommen. „Im Vorübergehen fällt es ja kaum auf“, fasst es eine Denkmalpflegerin zusammen.

Die Problematik der Unscheinbarkeit ist mittlerweile auch auf höchster politischer Ebene angekommen: Im Bezirksrathaus wird derzeit über eine Umgestaltung des Platzes beraten. Fürs Erste wird die Arbeit der Achtklässler aber weiterhin vonnöten sein.

Putzaktionen am Denkmal sind nicht das einzige, was an der Schule im Zeichen einer jungen Erinnerungskultur steht: In der Oberstufe rücke dann die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Unrechtsregime in den Fokus, so Hagemann. Bei besonders gelungenen Arbeiten winke den Schülern sogar eine Auszeichnung: Mehrfach schon konnten AMG-Schüler beim Jenny-Heymann-Preis punkten. Die Prämierung erinnert an eine jüdische Lehrerin aus Stuttgart und wird für fundierte Arbeiten im Sinne des christlich-jüdischen Dialogs vergeben. Die zahlreichen Preisträger stellen ebenso wie der Denkmalpfleger-Nachwuchs unter Beweis: Bei so engagierten Jugendlichen ist die Bedeutung des Holocausts nach wie vor präsent – auch 75 Jahre nachdem Hélène Berr auf unmenschliche Weise aus dem Leben gerissen wurde.

Cannstatter Mahnmal

Vom Gedenkstein zum künstlerischen Mahnmal und nun erneut ein Stein des Anstoßes – der Platz an der König-Karl-Straße, auf dem einst die von den Nationalsozialisten 1939 niedergebrannte Synagoge stand, sorgt schon länger für Diskussionen. 1961 machte die Stadt mit der Errichtung eines Gedenksteins den zaghaften Anfang, der 43 Jahre später durch das Albertus-Magnus-Gymnasium aufgegriffen wurde: Ein Schulprojekt in Zusammenarbeit mit dem Künstler Michael Deiml mündete 2004 in eine Umgestaltung. Seitdem ist wenig geschehen, gleichwohl sich eine weitere Neukonzeption ankündigt: Seit gut zwei Jahren wird im Bezirk über einen solchen Schritt diskutiert, auch das Albertus-Magnus-Gymnasium bekundete bereits sein Interesse an einer Mitwirkung. fh