Von Martin Mezger

Stuttgart - Viel zitiert, nie kapiert: Auf Richard Wagners „Parsifal“-Wort „Zum Raum wird hier die Zeit“ wird ja gern raunend herumgekaut, und wie ein Kaugummi lässt sich die Deutung dank dunklen Sinns von mystisch verwandelnder Spiritualität bis zur vorweggenommenen Relativitätstheorie Einsteins ziehen. Im Konzert des SWR Vokalensembles in der Stuttgarter Eberhardskirche bekam das Rätselwort einen ohrenscheinlich klaren Sinn: Zum Klangraum wurde hier die Zeitkunst schlechthin, die Musik, die sich naturgemäß in der Zeit ihrer Dauer entfaltet und doch räumliche Wirkung zeitigen kann. Etwa in den A-cappella-Motetten Anton Bruckners, wo Dynamik, Phrasenwiederholungen, Kontraktion oder Auffächerung des Tonsatzes einer klingenden Kathedrale gleichen: von Krypten und Nischen im Pianissimo-Dämmerlicht bis zu ragenden Pfeilern und mächtigen Fortissimo-Kuppeln.

Marcus Creed, Chefdirigent des Ensembles, erwies sich gleich im eröffnenden „Locus iste“ als Baumeister eines grandiosen Vokalklanggebäudes: sonor und mild der Piano-Einsatz, elastisch bis zur fulminanten Wucht die Dynamik, etwas unentschieden nur der C-Dur-Schlussakkord. Zu unruhig phrasiert wirkte indes das „Virga Jesse“, hinreißend dafür der emphatische Sog der kunstvoll schlichten Melodik des „Ave Maria“. Und im anspruchsvollen Passionsgesang „Christus factus est“ mit seinen chromatischen Alterationen und astralen Sopranhöhen steuerte Creed seine Sängerinnen und Sänger zu intensivster Tongebung, zu Höhepunkten strahlender Kraft, aber ohne Brutalität. In der visionären Ekstase dieser Musik bewies das SWR Vokalensemble seine überragende Qualität: die Einheit von technischer Perfektion und geschmeidiger Formung des Klangs. Die freilich auch Kante zeigen kann: so in der dissonant-deklamatorischen Härte zweier Psalmvertonungen von Charles Ives.

Eine Expedition ins unendlich Leise öffnete wiederum den ganz anderen Klangraum von Morton Feldmans 1971 komponierter „Rothko Chapel“. Diese musikalische Reflexion der quasi phosphoreszierenden, wie von innen leuchtenden Farbflächen-Gemälde Mark Rothkos setzt den textlosen Chorklang wie einen Schleier hinter die Kantilenen einer Solo-Bratsche (mit innig-edlem Ton: Andra Dazins), grundiert von sanftem Paukengrummeln oder sachte ploppenden Klanghölzern. In völliger Entwicklungslosigkeit schichten die Varianten des minimalistischen Klangmaterials Raum und Tiefe, Unmittelbarkeit und Ferne ineinander. Die Interpretation dieser gestalt- und gewaltlosen Musik, in der nur die Bratsche gestalthaften Laut gibt, war von einer geradezu tranceartigen Konzentration, beschädigt leider von einem draußen hupenden Autokorso.