Von Martin Mezger

Stuttgart - Da hockt sich der alte Knacker mit 84 hin und schreibt Musik, die die der jüngsten Generation noch toppt. Was heutigen Pop-Retrostars nicht gelingt, floss dem alten Georg Philipp Telemann mit seiner „Ino“-Kantate anno 1765 locker aus dem Notengriffel: ein ästhetisches Update, ohne sich selbst zu verleugnen. Das ist kein krachlederner Barock’n’Roll mehr, sondern atmet die Frühlingsluft galanter Empfindung und klassizistischen Geistes aus den bis Haydn und Mozart offenen Zukunftshorizonten. Heutig gesprochen schilderte das Stück - ein Monolog-Marathon für eine Sopranistin - einen krassen Fall häuslicher Gewalt, wäre nicht die Rachgier der ewig eifersüchtigen Göttergattin Juno drahtziehend im mythologischen Spiel. Sie hat Inos Gattin in einen rasenden Killer verwandelt, die fliehende Titelheldin weiß sich nicht anders zu helfen als mit einem Sprung ins Meer, wo ihr und ihrem Sohn wundersame Rettung und gar Unsterblichkeit zuteil werden. Der Handlung entspricht in den empfindsamen Versen Karl Wilhelm Ramlers und der Musik Telemanns eine Zäsur zwischen den Affekten der Verzweiflung und der Freude - und damit eine Herausforderung für die Interpretin, der Carolyn Sampson mit dem Freiburger Barockorchester im Stuttgarter Mozartsaal nur bedingt gerecht wird. Für den anklägerischen Ausdruck ihrer a-Moll-Arie fehlt es ihrem lyrischen Sopran an Dramatik, den vokalen Gebärden an Biss. Um so glorioser das freudige Finale mit Sampsons leuchtender, biegsamer Stimme, glänzender Höhe und expressiv-kantabler Schönheit; erlesen in ihrer milden, melodisch-melismatischen Eleganz auch die mittlere Arie mit den lombardischen Kurz-lang-Rhythmen im Orchester, jener federnden Signatur des galanten Stils. Überhaupt haben die von Konzertmeister Gottfried von der Goltz geleiteten Freiburger Telemanns Instrumentalsatz mit einer farbenreichen Finesse, lebendigen Pointiertheit und scharf konturierten Prägnanz ausgefeilt, die dem Werk alle verdiente Ehre erweisen: Namentlich die grandiosen, ins Ariose schweifenden Accompagnato-Rezitative öffnen sich und die Form zu einer Musikdramatik mindestens vom Range Glucks.

Auch wenn der Cembalist in (bewusster?) Ironie einen Band mit der Aufschrift „Bach“ auf dem Notenständer hatte: Hier galt es auch im ersten, instrumentalen Konzertteil dem vor 250 Jahren gestorbenen Telemann, dessen Genie fast zwei Jahrhunderte lang hinter dem großen Thomaskantor schmählich missachtet wurde. Hörbar zu Unrecht, denn Telemann schlägt in der D-Dur-Ouvertürensuite aus seiner „Tafelmusik“-Sammlung zwar andere, weltmännisch-joviale, aber nicht minder ingeniöse Töne an. Die Freiburger interpretierten sie mit feinem Swing und pulsierendem Elan, prickelnd in den lebhaft (und auch live-risikobereit) gespielten Soli samt Jaroslav Roučeks wunderbar kammermusikalisch mit wohldosierten Schmetterakzenten geblasener Trompete. Eine Klangsensation dann das d-Moll-Konzert für zwei Chalumeaux, jene klarinettenverwandten Holzblasinstrumente: Lorenzo Coppola und Tindaro Capuano radikalisierten die feinpastellenen Soli zu soghaften Exzessen des Leisen.