Durch die Linse der Medien reflektiert ein Teil der Ausstellung das Thema Sklaverei und Kolonialismus. Foto: Alexander Kluge / Württ. Kunstverein Quelle: Unbekannt

Von Dietrich Heißenbüttel

Stuttgart - In der Mitte des Vierecksaals des Stuttgarter Kunstgebäudes balanciert Charlie Chaplin auf einem Hochseil - zu sehen in einem Fernseher, der wiederum auf eine Leinwand projiziert wird. Affen halten ihm die Augen zu, die herunter gerutschte Hose verheddert sich zwischen seinen Füßen. Die Szene aus Chaplins „Circus“ verweist auf Alexander Kluges zweiten, 1968 in Venedig uraufgeführten Langfilm „Die Artisten in der Zirkuskuppel, ratlos“. Der Hochseilakt ist für Kluge auch ein Bild des intellektuellen Abenteuers und der Kunst. Eigentlich sei aber Bodenhaftung das „Kernprinzip“ seiner Ausstellung im Württembergischen Kunstverein (WKV). Das illustriert Kluge mit einem Video, in dem Thomas Mauch, geboren in Heidenheim und Kameramann seines ersten Films „Abschied von gestern“, Hegel und Hölderlin auf Schwäbisch rezitiert. Damit, so Kluge, bringe er die Texte zum „Singen“: „Das Hochdeutsche knistert wie Zeitungspapier“ (so auch der Titel), „das Alemannische strömt wie das Blut.“ Im Gegensatz der Seiltanz: „Man kann runter fallen - und Kunststücke vollführen.“

„Gärten der Kooperation“

Valentin Roma, Direktors des Kunstzentrums „La Virreina Centre de la imatge“ in Barcelona, hat Kluge im vergangenen Jahr zum ersten Mal eine Ausstellung gewidmet: einfach um dem spanischen und katalanischen Publikum den Autor und Filmemacher vorzustellen, der 1962 als Mitverfasser des Oberhausener Manifests und dann als Begründer des Film-Studiengangs an der Ulmer Hochschule für Gestaltung Geschichte geschrieben hat und der sich bis heute, mittlerweile 85-jährig, immer wieder mit wachem Geist in aktuelle Debatten einmischt. Während das Museum Folkwang in Essen parallel eine weitere Kluge-Ausstellung veranstaltet, knüpft der WKV an den Titel aus Barcelona an: „Gärten der Kooperation“. Das ist Programm: Die Ausstellung entstand in einer Zusammenarbeit der WKV-Direktoren Hans D. Christ und Iris Dressler mit Kluge selbst.

Für diesen war dies eine neue Erfahrung: Kein Ausstellungsbesucher würde sich 90-minütige Filme ansehen. Dafür lassen sich kurze Szenen und Ausschnitte, ja auch Texte und Abbildungen aus Büchern nebeneinander stellen. Kluge spricht von einer „Verräumlichung“. Da er, wie das Motiv des Seiltänzers zeigt, viele Themen immer wieder aufgreift, können sich Videos, Texte und Bilder gegenseitig kommentieren und zugleich die verschiedenen Medien einander beleuchten. Er vergleicht dieses Nebeneinander mit der Mehrstimmigkeit in der Musik: Szenen für einige der neu angefertigten Filme hat er in den Kulissen der Oper gedreht - auch in Stuttgart.

Das Ohr sei das „Hauptorgan für Sensibilität“, sagt Kluge: die Öffnung, durch die Sprache und Musik in die Härte des Schädels eindringen, aber auch - siehe Hochseilakt - für das Gleichgewicht zuständig. „Die Vernunft“, steht da zu Bildern von Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas, „ist ein Balance-Tier.“ Das akustische Organ kann in der Not entscheidend sein, erklärt Kluge und erinnert an das einschneidende Erlebnis seiner Kindheit, die Bombenangriffe auf Halberstadt, die er im Alter von 13 Jahren erlebte. Was ihn seither beschäftigt, ist die Frage, was sich hätte anders entwickeln müssen: an welchem Punkt sich die Weichen hätten anders stellen lassen. „Was könnte ich im Jahr 1921 in Aleppo tun, damit ich dort im Jahr 2017 in Sicherheit leben kann?“ Denn wie die Menschen damals treffen auch wir heute Entscheidungen, die in weiter Zukunft eine Katastrophe herbeiführen oder verhindern können.

Emanzipation, auch „Möglichkeiten, die verschüttet wurden“ und die Kluge wieder ausgräbt, sind für Iris Dressler das zentrale Motiv der Ausstellung:. Sie gliedert sich in sieben „Inseln“ oder thematische Felder, die sich um ebenso viele, kreuz und quer in den Raum gestellte Wände gruppieren: vorn jeweils eine Abbildung aus einem Buch Kluges, auf der Rückseite ein Text, im ersten Fall etwa „Schwarzer Atlantik (Black Atlantic)“ - nach dem Buch von Paul Gilroy - aus dem 2003 erschienenen Band „Die Lücke, die der Teufel läßt“.

Anschauungen zum Kolonialismus

In theoretischen Erörterungen, aber auch mit Opernproduktionen von Giacomo Meyerbeers „Die Afrikanerin“ bis zu Wagners „Tristan und Isolde“, geht Kluge Kolonialismus und Sklaverei nach. In der sechsten Station, „Nachtwind“, heißt es, an Jacques Derrida anknüpfend: „In manchen Nächten kommt Marx als Gespenst.“ Es geht um „das Quietschen der Macht, wenn sie Bremsen zieht“: Aufstände, Demonstrationen, Polizeigewalt und den „Deutschen Herbst“.

Der „Kälte“ (Insel 2) setzt sich die Nachbarinsel „Liebe. Die Macht der Gefühle. Urvertrauen“ entgegen. Insel 5 thematisiert „Die poetische Kraft der Theorie“, Insel 7 den „Garten der Kooperation“, also das Motto der Ausstellung, die Kluge als Werkstatt versteht.

Wer Kluge nicht gut kennt, muss Zeit mitbringen - oder einfach an einer Stelle anfangen und ein anderes Mal wiederkommen. Denn es gibt keine festgelegte Reihenfolge. Insel 4 („Bifurkation“) weist darauf hin: Kluges Denken ist das Denken in Alternativen. Der Kammersänger aus seinem Film „Die Macht der Gefühle“ antwortet auf die Frage, warum er im ersten Akt noch guter Dinge ist, obwohl er den Ausgang längst kennt. Der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl erklärt Gilles Deleuzes Begriff des Rhizoms, des Wucherns in alle Richtungen: ein Prinzip, dem auch die Ausstellung folgt.

Mitte November wird sie um weitere Arbeiten von Peggy Buth und Anselm Kiefer anwachsen, während sie mit einer Hommage an einen wenig bekannten Film von Pier Paolo Pasolini, in dem unter anderem der neapolitanische Komiker Totó mit grün geschminktem Gesicht als Marionette auftritt, bereits über sich hinausführt : Denn unter dem Titel dieses Films „Was sind die Wolken?“ wird am 17. November im Kunstgebäude eine weitere Ausstellung eröffnet.

Bis 14. Januar im Kunstgebäude am Schlossplatz in Stuttgart. Öffnungszeiten: dienstags bis sonntags von 11 bis 18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr. Während der Ausstellung ist auch eine Reihe von Filmen zu sehen, unter anderem am 12. November „Die Artisten in der Zirkuskuppel, ratlos“.